Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Hrsg.]; Assmann, Jan [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0036
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mozart - oder unser Unvermögen, das Genie zu begreifen *9

Genie und Gene

Der Genius war für den Römer ein Schutzgeist und als solcher vor allem das
im Manne wirkende „zeugende Prinzip", komplementär dem „empfangen-
den Prinzip" der Frau, der Iuno, Ingenium ist das Angeborene, die Naturan-
lage, das Talent. Das Genie leitet sich in der Tat von demselben Wortstamm
ab wie das Gen. Lässt sich mithin das Geniale im Menschen seinen Genen
zuordnen? Man ist versucht, Johann Sebastian Bachs Söhne als Kronzeugen
anzuführen, auch wenn sie das Genie des Vaters nicht erreichten. Ein Bei-
spiel für die Naturwissenschaften wäre die Bohr-Familie. Harald Bohr, der
Mathematiker, zählt zu den Großen seines Faches und sein Bruder hat wie
kaum ein anderer die Physik dieses Jahrhunderts geprägt. Niels' Sohn Ake
wurde ebenso wie sein Vater mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet, und
der Vater von Niels und Harald, Christian Bohr, ist heute noch jedem Bio-
chemiker wohl bekannt. Er hatte die Bindung des Sauerstoffs an den roten
Blutfarbstoff Hämoglobin untersucht und dabei den - nach ihm benannten -
Effekt der Regelung der Bindungsfähigkeit durch das Milieu entdeckt. Die
Reihe der Beispiele für geniale Familien ließe sich fortsetzen, doch gemessen
an der Gesamtheit der Genies erscheinen sie uns eher als die Ausnahmen,
die die Regel bestätigen, nämlich die Regel, dass Genie als solches nicht ver-
erbbar ist. Genies zeugen fast nie geniale Kinder! Man wird unwillkürlich an
jene Anekdote um George Bernard Shaw erinnert, dem eine Schöne sich an-
trug mit den Worten: „Ihr Genie, Meister, und meine Schönheit, was muss
das für Kinder geben," die Shaw jedoch lakonisch abwehrte: „Wie aber,
wenn es umgekehrt herauskommt?"

Dennoch ist ein Zusammenhang zwischen Genie und Genen nicht von der
Hand zu weisen. Ein Widerspruch? Keineswegs! Im Genie wirken viele Fak-
toren zusammen, sowohl ererbte als auch erworbene. Den Ausschlag gibt
erst das Zusammenwirken all dieser Faktoren. So finden wir dann auch viele
individuelle Abstufungen: von der bloßen Begabung über das Talent bis hin
zum Genie - von der Fleißarbeit bis zur genialen Schöpfung. Anlage und
Übung, jede für sich ist notwendige, beide gemeinsam aber ergeben erst die
hinreichende Voraussetzung für die Entfaltung des Genies.

Kunst und Wissenschaft begegnen sich im Schöpferischen. Beide bedür-
fen gleichermaßen der originellen Leistung, und diese begründet ihre Wahl-
verwandtschaft. Je größer das Genie, umso größer die Originalität des Werkes,
das zu seiner Vollendung aber ebenso des Fleißes und der Disziplin bedarf.
Das Ausfeilen eines Konzeptes wird in der Wissenschaft von vielen (für den
Außenstehenden oft Namenlosen) besorgt. Dabei erst entwickelt sich eine
allgemein verbindliche Terminologie, Lücken werden ausgefüllt und Quer-
vernetzungen hergestellt. Am Ende steht dann ein zusammenhängendes, in
sich widerspruchsfreies Denkgebäude vor uns, in dem die als Fundamente
 
Annotationen