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Brodersen, Kai; Holm-Hadulla, Rainer Matthias [Editor]; Assmann, Jan [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Kreativität — Berlin, Heidelberg [u.a.], 44.2000

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.4064#0254
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Selbsterschaffene Personen 247

gen, sondern gerade in dem Ausdruck des Individuellen erkennen wir nach
Herder die Wirklichkeit; und das bedeutet auch das Allgemeine: das was uns
verbindet. Doch diesen Glauben an die unbedingte Bedeutsamkeit des indi-
viduellen Ausdrucks scheint Larkin nicht mehr zu teilen. Er sieht ihn zum
Verschwinden verurteilt - kein „lehrendes Exempel"2 für die Nachwelt, son-
dern etwas, was nur für einen Menschen galt.

Was ist passiert, dass Larkin als Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts die
Zuwendung zum Subjektiven, Eigenen, Individuellen nicht mehr als eine Be-
freiung vom Abstrakten und Entdeckung der konkreten Wirklichkeit emp-
findet, sondern als ein „must not"; ein Verbot, sich selbst zu überschreiten,
das letztlich das eigene Leben zur Bedeutungslosigkeit verdammt? Vermutlich
hat dies weniger mit der Situation des Dichters als mit der Lebenssituation
im Europa und Amerika der Gegenwart zu tun. Denn was Larkins Über-
legungen allgemeine Bedeutung verleiht, ist weniger die spezifische Selbst-
bezüglichkeit des Künstlers, der seine je individuelle Sicht der Welt aus-
drückt, als dass diese Selbstbezüglichkeit mit der zunehmenden Ersetzung
moralischer durch psychologische Beschreibungsweisen auf undurchschaute
Weise zu einer allgemeinen Lebenshaltung geworden zu sein scheint: Eine
Lebensweise, von der sich schwer sagen lässt, ob sie zur Individualität befreit
oder in ihr gefangen ist.

In der Philosophie hat bekanntlich Martin Heidegger dieser Tendenz
einen suggestiven, „existenzphilosophischen" Ausdruck verliehen, als er das
„je meinige" menschliche „Dasein" als ein Selbstverhältnis beschrieb: Das
„Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und d.
h. in seinem Sein irgendwie versteht."3 Und in diesem Selbstverhältnis kann
es sich selbst „gewinnen" oder auch „verlieren". Es kann, in Heideggers be-
rühmter Beschwörungsformel, „eigentlich" oder „uneigentlich" sein. Und
das hängt wesentlich davon ab, ob es eine „eigene" Möglichkeit realisiert
oder sich von einem pejorativ gedachten „Man" her versteht, nämlich aus
den Rollenangeboten und Identifikationsmöglichkeiten der gesellschaftli-
chen Öffentlichkeit. Die populäre Variante dieser existenzphilosophischen
Eigentlichkeit ist die Vorstellung, man solle sich „selbst verwirklichen". Was
das genau bedeutet, ist freilich nicht leichter anzugeben, als was Heidegger
meint. Der Gedanke scheint das Streben, glücklich zu sein, an die Realisie-

Denn ein solcher getreu sich selbst beschreibender Mensch, so Herder, „würde uns sagen
können: „Hier schlägt das Herz matt, hier ist die Brust platt und ungewölbet, dort der Arm
kraftlos, hier keuchet die Lunge, dort dumpft der Geruch, hier fehlt lebendiger Odem, Ge-
sicht, Ohr dämmert, der Körper diktiert mir hier schwach und verworren: so muß also auch
hie oder da meine Seele schreiben. Das fehlt mir, da ich jenes und aus solchem Grunde ha-
be" [...)- welche lehrende Exempel wären Beschreibungen von der Art. Das werden philo-
sophische Zeiten sein, wenn man solche schreibt, nicht, da man sich und alle Menschenge-
schichte in allgemeine Formeln und Wortnebel einhüllet." Ibid; Herv. M. S. L,
Martin Heidegger (1986), S. 43.
 
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