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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0072

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60 Stefan Büttner

immer offen zutage. Viele Faktoren - allerdings nicht nur in Deutschland wirk-
same - scheinen klar: Zerstreuung durch den Konsum verändert die Rhythmen
des Lernens und Erlebens; die Zeit für ein vertiefendes Wiederholen, für eine
produktive Erinnerung wird angesichts immer neuer konsumtiver Sensationen
knapp. Das Bewusstsein ist besetzt von Bildern und Informationen, von Musik
und Krach, so dass Konzentration kaum möglich ist; nur das leicht Eingängige
kann noch wahrgenommen werden. Die Beschleunigung der Arbeits- und Le-
bensprozesse lässt Wissensinhalte zu auswechselbaren und damit scheinbar
beliebigen Informationen werden. Mit den modernen Technologien sind an-
dere Kulturtechniken verbunden; Internet und Computerspiele fordern neue
Fähigkeiten und provozieren andere Potentiale als Lesen und Schreiben. Macht
und Ausbreitung visueller Medien drängen daher Schreib- und Lesekompe-
tenzen so weit zurück, dass in vielen Fällen geradezu von einer sekundären
Analphabetisierung gesprochen werden kann. Die moderne Wirtschaftsform
wirkt sich aus: Das ökonomische System funktioniert im raschen Wechsel von
Geld und Eigentum; dies kann nicht ohne Einfluss auf Bildungsprozesse sein,
die eine andere, längerfristige Perspektive erfordern.4

Darüber hinaus haben die Wissens- und Bildungsinhalte selbst sich verän-
dert. Vielfach sind es andere Inhalte als die traditionellen, die in den Vorder-
grund getreten sind. Wir wissen nicht einfach weniger, wir wissen anderes.5
Aber ist das, was wir anderes wissen, auch für unsere Lebensgestaltung und
Lebensführung hilfreich oder stehen wir, wenn es zu Krisen kommt, ohne Hilfe
vonseiten unseres Wissens und unserer Bildung da?6

Vgl. dazu bereits die Diagnose bei Simmel 1989,723 (Nachdruck der Selbstanzeige von 1901):
„Indem alles dies (sc. Geschäfte und Betriebe, Kunstwerke und Sammlungen, Grundbesitz,
Rechte und Positionen) immer kürzere Zeit in einer Hand bleibt, die Persönlichkeit immer
schneller und öfter aus der spezifischen Bedingtheit solchen Besitzes heraustritt, wird frei-
lich ein außerordentliches Gesamtmaß von Freiheit verwirklicht; allein weil nur das Geld mit
seiner Unbestimmtheit und inneren Direktionslosigkeit die nächste Seite dieser Befreiungs-
vorgänge ist, so bleiben sie bei der Thatsache der Entwurzelung stehen und leiten oft genug
zu keinem neuen Wurzelschlagen über." Vgl. dazu auch die Schilderung der gegenwärtigen
Form des Kapitalismus - anhand einzelner Lebensgeschichten - bei Sennett 720oo, 38: „Ich
glaube, Rico weiß, daß er zugleich ein erfolgreicher und verwirrter Mann ist. Er hat Angst,
daß jenes flexible Verhalten, das ihm seinen Erfolg gebracht hat, den eigenen Charakter in
einer Weise schwächt, für die es kein Gegenmittel gibt. Wenn er ein Jedermann unserer Zeit
ist, dann aufgrund dieser Angst." (Hervorh. d. Vf.)

Enzensberger 1991, 22: Enzensberger vergleicht den Bildungs- und Wissensstand Melan-
chthons mit demjenigen von Zizi und Bruno, einer Friseuse und ihres Freundes, und kommt
zum Schluss: „Was sie wissen und was sie ignorieren, ist ebenso sonderbar und monströs wie
die Umgebung, in der sie lernen, was sie lernen, und vergessen, was sie vergessen. Sollten sich
die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik dergestalt ändern, daß Zizi, Bruno und Helga
mit einer soliden klassischen Bildung irgend etwas anfangen können - an ihnen würde es
ganz gewiß nicht liegen."
Vgl. dazu auch Schlechta 1969a, 100-108.
 
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