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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0287

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Wissen und Raum - ein subtiles Beziehungsgeflecht 275

der Diagnose- und Prognosefähigkeit vor allem deshalb überlegen ist, weil
die Symptome auf Positionen in einem dreidimensionalen Raum, nämlich
den Körper des Menschen, bezogen sind. Ohne eine Berücksichtigung der
Räumlichkeit der Symptome bzw. ohne die banale Frage „wo tut es weh?" wäre
auch die Diagnosefähigkeit der Medizin deutlich geringer.

Die strategische Positionierung und räumlich überlegte Präsentation von
Dingen, Personen, Ereignissen und Themen ist auch eine wirksame Metho-
de, um diesen eine unterschiedliche Bedeutung zuzuweisen, um Vergleiche zu
ermöglichen oder zu verhindern, um auf Ähnlichkeiten oder Unterschiede hin-
zuweisen, um Kategorien und Abgrenzungen zu bilden oder zu vermeiden, eine
soziale Differenzierung vorzunehmen, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Ob-
jekte und Themen zu lenken und andere Ereignisse abzuwerten, zu verschwei-
gen oder zu zensurieren. Wie Hard 22 betont, ist in der sozialen Kommunikation
die Verortung auch ein Mittel, um zu überzeugen und zu manipulieren sowie
Sach- und Sozialinformation zu unterdrücken.

In vielen Entscheidungssituationen ist also die räumliche Konfiguration
oder die räumliche Anordnung der Entitäten entscheidend. Ohne eine Analy-
se der räumlichen Muster von Merkmalen und Beziehungen lassen sich viele
gesellschaftliche Strukturen, Prozesse, Disparitäten, Probleme und Ursachen
weder erkennen noch ausreichend erklären. Deshalb sollte eine Diagnose von
sozialen Problemen nicht nur die Frage „seit wann?", sondern immer auch die
nach dem „wo" einschließen. Gesellschaften oder Kulturen kann man nach
Massey23 als „spatio-temporal event" oder „envelopes of space-time" charak-
terisieren. Eine Nichtberücksichtigung oder Vernachlässigung der räumlichen
Dimension führt bei den meisten sozial-, kultur- und wirtschaftswissenschaft-
lichen Fragestellungen zu ähnlichen Defiziten wie eine Außerachtlassung der
historischen Dimension.

2.2 Das Mikro-Makro-Problem in der räumlichen Dimension -
der Wissenschaftler als Spurenleser

Mit der Forderung nach Mehrebenenanalysen unterscheidet sich die Human-
geographie nicht von der modernen Soziologie.Die früher unter Soziologen
weit verbreitete Einstellung, dass eine Analyse des Verhaltens von Individuen
wissenschaftlich fundiertere Erkenntnisse bringe als die Untersuchung von
Makrophänomenen, scheint seit einigen Jahren auf dem Rückzug zu sein.
Schluchter24 weist zu Recht darauf hin, „dass das Erklärungsobjekt der So-
ziologie [nicht] ausschließlich das individuelle Handeln", sondern „vielmehr
in der Regel ein Makrophänomen", nämlich das Systemverhalten sei. „Metho-
dologischer Individualismus heißt deshalb zunächst nur, dass die Analyse von

22 Hard 1999,158.
Massey 1999a, 22f.
Schluchter 2005,24.
 
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