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Felder, Ekkehard [Hrsg.]; Bär, Jochen A. [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Sprache — Berlin, Heidelberg, 53.2009

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Bär, Jochen A.: Die Zukunft der deutschen Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.11275#0072
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Die Zukunft der deutschen Sprache *

JOCHEN A. BAR

i. Die Sprache im Wandel

Ein Paradoxon frei nach Martin Luther: Die Sprache ist der Sprache grofiter
Feind und tut ihr unabldssig Schaden. Die Sprache ist der machtigste Freund
der Sprache und erhalt sie allein.1 Denn spricht man nicht jeden Tag und hort
man nicht andere sprechen, so geht einem die Sprache verloren. Wer langere
Zeit im Ausland ist und keine Gelegenheit hat, seine Muttersprache zu iiben,
erfahrt, dass sie ihm mit der Zeit teilweise abhanden kommt, dass sie sich aber
unmittelbar wieder einstellt, sobald er sie horen und mit anderen sprechen
kann. Nur die aktive Teilhabe an der Sprache erhalt dem Einzelnen die Spra-
che. Er lernt sie nicht ein fur allemal (und sei es als Muttersprache), um sie
dann stets gleichbleibend zu beherrschen, sondern muss den Spracherwerb
jeden Tag, ja jeden Augenblick im Kleinen wiederholen. Entsprechend verfiigt
jeder Mensch iiber einen ausgepragten Nachahmungstrieb, um sich das ihm
von alien Seiten Vorgesprochene und auch Vorgeschriebene immer wieder von
Neuem anzueignen. Eben darin aber griindet die Wandelbarkeit der Sprache,
denn was man im faustischen Sinne taglich erobern muss2, ist kein sicherer
Besitz,sondern „wintschaffen" (Gottfried von StraEburg, Tristan,V. 15740), also
schwankend und keinen Augenblick sich selbst gleich. Wer, um bei der Sprache
zu bleiben, anderen nachspricht, die ihrerseits anderen nachsprechen, die ih-
rerseits ... - der bleibt bei der Sprache, ohne bei der Sprache zu bleiben, denn
die Sprache, bei der er bleibt, bleibt nie dieselbe Sprache. Ware es anders, spra-
chen wir noch heute wie zur Zeit Karls des GroEen; es gabe keine Worter, um
das alltagliche Leben zu gestalten (und folglich weder Auto noch Telefon, we-
der Beruf noch Freizeit, weder freiheitlich-demokratische Grundordnung noch

* Bei Teilen des vorliegenden Beitrags handelt es sich eine Umarbeitung von Passagen alterer
Beitrage (Bar 1999; ders. 2000a). Ich danke Sarah Stephan (Heidelberg) und Jana Tereick
(Heidelberg/London) fur zahlreiche Anregungen und wertvolle Hinweise.

1 Vgl. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520): „Eyn Christenmensch
ist eyn freyer herr uber alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christenmensch ist eyn
dienstpar knecht aller ding und yderman unterthan." (D. Martin Luthers Werke. Kritische
Gesamtausgabe. Weimar i883ff. Bd. 7,21.)

2 Johann Wolfgang Goethe, Faust II, V. ii575f.
 
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