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Felder, Ekkehard [Hrsg.]; Bär, Jochen A. [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Sprache — Berlin, Heidelberg, 53.2009

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Kilian, Jörg: "Wie muß das heißen?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11275#0144
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„Wie mufi das heissen?"

Hochsprachnormierung und Sprecherziehung

im Lehrgesprach des 18. Jahrhunderts
Ein Beitrag der Historischen Dialogforschung
zur Erklarung des Sprachwandels *

JORG KILIAN

1. Zur Einfuhrung

Wer am Ende des 18. Jahrhunderts im padagogischen Diskurs mitreden woll-
te, musste im Ort Reckahn in Brandenburg gewesen sein. Dort stand die von
Friedrich Eberhard von Rochow gegriindete Elementarschule fiir die Kinder
seiner Untertanen. Die Besucherliste ist entsprechend umfangreich (vgl. Ro-
chow, Padagogische Schriften IV, 437ff.). Das Anziehende, ja: Exotische an die-
ser Schule des Domherrn Friedrich Eberhard von Rochow bestand darin, dass
hier vorgefuhrt wurde, wie offenere Formen des Lehrgesprachs, und zwar vor-
nehmlich die Form des gelenkten Unterrichtsgesprachs, auf einer Landschule
mit Klassen einfacher Bauernkinder unterschiedlichen Alters und Lernstandes
gefuhrt werden konnten. Bislang hatte man solche Kinder, sofern sie uberhaupt
unterrichtet wurden, in relativ groEen Klassen („Haufen" mit bis zu hundert
Kindern) in einem Klassenraum zusammengepfercht und „unterrichtet" im
Stil des lutherischen Katechismus: Die Kinder wurden angehalten, Fragen und
Antworten auswendig zu lernen, um sodann, einzeln aus den „Haufen" vor den
Lehrer gerufen, die Antworten auf die Fragen „herzusagen".

Hier nun, in Reckahn, sollten die Kinder systematisch unterrichtet werden,
mehr noch: im Stil des sokratischen Gesprachs selbsttatig Wissen erwerben.
Dazu wurden die Kinder erst einmal in eine Sitzordnung gebracht (nach Rie-
mann 1781:189; s. Abb. 1 auf der nachsten Seite).

Diese Sitzordnung ordnete die in der Dorfschulstube irgendwo stehenden,
sitzenden, liegenden Kinder, eben die „Haufen", zugleich zum Gesprach, sie war
Sozialordnung des Lehrgesprachs. Der Lehrer fuhrte in Reckahn nicht mehr nur
„Verh6re" mit einzelnen Schulern, sondern Gesprache mit der ganzen Klasse,
was ein enormer Fortschritt war, wurden doch nun alle Kinder gleichzeitig am

* Der Beitrag fasst Teile meiner Untersuchungen zum Zusammenhang von „Lehrgesprach und
Sprachgeschichte" zusammen (vgl. Kilian 2002).
 
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