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Felder, Ekkehard [Editor]; Bär, Jochen A. [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Sprache — Berlin, Heidelberg, 53.2009

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Bär, Jochen A.: Die Zukunft der deutschen Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.11275#0100
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Die Zukunft der deutschen Sprache

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cher AuBerungen als auch hinsichtlich der Konzeption unterscheiden. Dem-
nach ist von medialer Mundlichkeit dort die Rede, wo eine sprachliche AuEe-
rung phonisch, von medialer Schriftlichkeit dort, wo sie graphisch realisiert
ist (Koch/Oesterreicher 1994: 587). Konzeptionelle Schriftlichkeit bzw. Mund-
lichkeit stehen demgegeniiber fur „den Duktus, die Modalitat der AuEerun-
gen sowie die verwendeten Varietaten" (ebd.). Wahrend die Unterscheidung
von medialer Schriftlichkeit und Mundlichkeit „dichotomisch zu verstehen"
ist (ebd.), erscheinen konzeptionelle Schriftlichkeit und Mundlichkeit als die
„Endpunkte eines Kontinuums" (ebd.). Der „Schriftlichkeits-Pol" (ebd.: 588)
steht dabei unter Anderem fiir folgende Aspekte: ,raumzeitliche Distanz', ,so-
ziale Distanz', ,emotionale Distanz', ,6ffentliche Sprachverwendungssituation',
,Monologizitat', ,Reflektiertheit/Geplantheit der Aufierung'. Man konnte auch
sagen: Konzeptionelle Schriftlichkeit bzw. Mundlichkeit sind sprachprodukti-
onsbezogene Einstellungen. Sie erscheinen jeweils als die Neigung, sprachliche
Aufierungen, seien sie fiir das Medium der Phonie oder der Graphie geplant, so
zu gestalten, wie prototypischerweise phonische bzw. graphische AuEerungen
gestaltet sind.

Eine medial schriftliche Sprachform nenne ich hier der Einfachheit hal-
ber Schreibsprache, eine medial mundliche Sprechsprache. Demgegeniiber steht
Schriftsprache fiir eine konzeptionell schriftliche Sprachform (die als Schreib-
oder Sprechsprache erscheinen kann), Redesprache fiir eine konzeptionell
mundliche (die ihrerseits Sprech- oder Schreibsprache sein kann). Schrift- und
Schreibsprache einerseits und Rede- und Sprechsprache andererseits weisen
dabei jeweils eine „ausgepragte Affinitat" auf (Koch/Oesterreicher 1994: 587).

Im hier eingefiihrten Sinne von Schreibsprache und Redesprache ist fiir das
spate 20. und friihe 21. Jahrhundert eine Tendenz der Annaherung zwischen
beiden Sprachformen festzustellen. Diese Tendenz wird von der Forschung auf
unterschiedlichen Ebenen des Sprachsystems anhand konkreter Sprachwan-
delphanomene behauptet.

Als Reflex der gesprochenen Sprache im syntaktischen Bereich lasst sich
mit Weinrich (1984: 97) eine Tendenz der deutschen Gegenwartssprache zur
Reduktion der Satzklammer interpretieren (Die Sonne geht nicht unter in mei-
nem Reich statt Die Sonne geht in meinem Reich nicht unter). Ahnliches gilt
fiir die seit Jahren viel diskutierte Verbzweitstellung im kausalen Nebensatz
mit weil {Ich kann nicht mit in die Kneipe, weil ich bin anderweitig verabre-
det). Das Phanomen erregte auch aufierhalb der Sprachwissenschaft weithin
Aufmerksamkeit. Sprachpflegerisch gesinnte Zeitgenossen griindeten eine Ak-
tionsgemeinschaft „Rettet den Kausalsatz" (Wegener 1999: 3); in Hamburg
wurde 1994 in einer Gymnasialklasse auf Anregung des Deutschlehrers jeder
weil-Sztz mit Verbzweitstellung als „sprachliche Schlamperei" mit einer Geld-
bufie belegt (ebd.). Die Linguistik sieht heute in der beschriebenen Satzstellung
jedoch gemeinhin nicht mehr einen Bruch der Satzkonstruktion (Anakoluth)
und damit einen RegelverstoE, sondern ein „Spezifikum der gesprochenen
 
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