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Die Illustrirte Welt.

von der Decke herabhingen; zu den Füßen des Arztes stand !
ein Mörser, auf dem Tisch am Fenster eine blankgescheuerte
Waage und über dieser ein Todtenkopf, der das kleine
Bauernmädchen, das hinter dem Lehnstuhl des Aescnlap
stand, nicht wenig beunruhigte.
Die Mutier, weiche nicht genug für ihren Liebling
sprechen konnte, verdoppelte die Einzelheiten. „Er magert
mit jedem Tage mehr ab; er lacht nicht. Auch will ihm
nichts schmecken; die besten Bissen machen ihm keinen Ap-
petit, er will nicht zu Bette gehen, will nicht schlafen. Die
Spiele seiner Schwestern bringen ihn so sehr in Zorn, daß
er ost ganz blau wird. Kurz, er kann Niemanden leiden,
als mich."
„Das ist wohl Euer Erbe?" fragte der Doktor.
„Ja, Herr Doktor; ja er ist unser einziger Sohn,
der Jüngstgebornc."
„So, Eure übrigen Kinder sind Mädchen?"
„Leider ja, und alle schon erwachsen; die Jüngste ist
diese da, die mir den Buben tragen half. Der fehlt weder
Gesundheit noch Appetit, während er immer elender wird, und
gewiß nicht, weites ihm anPflege mangelt, dafür stehe ich."
„Ich auch," murmelte der Doktor. „Ihr wollt, daß
ich ihn kurire?"
.„Ja, Herr, das arme Lamm, wir würden gerne alles
für ihn geben?"
„Dann verfahrt mit ihm, wie mit seinen Schwestern,
die alle so wohl sind; laßt ihn wie sie mit frühstem Mor-
gen anfftehen, die welschen Hühner und die Kühe hüten,
den letzten und geringsten Bissen bei Tische essen; sieht er
die andern hungrig zugreifen, so wird auch er Appetit be-
kommen; Suppe, Kartoffeln und ein Bissen Fleisch, wie's
die Knechte kriegen, wird ihm gut thun."
„Aber, Herr Doktor, er ist so zart, so jung; bisher
war uns nichts gut genug für ihn. Er ist unser einziger
Bube!"
„Ihr wollt aber doch, daß er gerettet werde. Die
Bcnjamine der Familie, die Verzogenen nehmen ein schlim-
mes, ein frühzeitiges Ende. Der Bube muß mit der Lerche
aufstehen, nur zur Zeit der allgemeinen Mahlzeiten essen,
drei Mal des Tages und keinen Bissen mehr ...."
„Ja, dann ißt er gar nichts! Er will nur Brühe,
Nahm, Zuckerwerk oder Kuchen, die man ihm von der Stadt
bringt. Bisweilen ein Bischen Obst, das er aber nur
grün mag. Er würde nichts essen, Sie dürfen's überzeugt
sein."
„So soll er hungern, gute Frau, das wird ihm sehr
gut tbun. Wenn Ihr ihn verzärtelt, faullenzen laßt und ihm
zu essen gebt, was er will, so verspreche ich ihm keine sechs
Monate mehr. Ich wiederhol' es Euch, mit Tagesanbruch
aufstehen, essen mit den andern und wie die andern, im
Freien sich bewegen, in keinen Federbetten schlafen — das
wird ihn gesund machen."
„Aber, Herr Doktor, dann schläft er nicht. Ich muß
ihn auf meinen Armen wiegen, bis er einschläft."
„Wenn Ihr ihn wiegt, ihn verhätschelt und nicht
meinen Rath pünktlich befolgt, so könnt Ihr sein Sterb-
kissen nähen, denn er wird es bald nöthig haben."
Dies Wort schien mir zu hart. Nach der Prophe-
zeiung schob der Arzt die Brille höher hinauf und las in
seinem großen Buche weiter.
Die Bäurin mochte mit diesem schlimmen Tröste nicht
von hinnen gehen: sie bat, flehte und versprach endlich aufs
feierlichste, die Vorschriften des Doktors streng zu be-
folgen.

Nachdem er sie noch einmal wiederholt und von Sei-
ten der Bäurin versprochen war, ihnen genau nachzukom-
men, fragte sie halblaut:
„Wie, Ihr verordnet ihm nicht mal etwas? Ihr gebt
ihm nichts zum Einnehmen?"
„Doch, meine Universalpillen: er muß sie jedoch
dreimal in der Woche selbst zu Fuße holen: seine Schwester
mag ihn führen, dann geht er rascher."
„Aber bedenkt doch, daß er nicht zehn Schritte machen
kann, ohne daß ihm die Beine zusammenbrechen."
„In acht Tagen wird er dieViertelstunde von Enrem
Hofe mit Leichtigkeit machen. Meine Pillen nützen nur de-
nen, die vor und nach dem Genuß derselben gehen; für alle
andern sind sie gefährlich, ja sogar tödtlich. Wenn Ihr
das Leben des Knaben erhalten wollt, so müßtJhr meinem
Ralhe folgen. Er darf nicht essen, wenn er nicht großen
Hnnger hat, er soll nur schlafen, wenn er todtmüde ist,
die Andern bedienen, statt daß sie ihn bedienen, und ich
versichere Euch, daß er, ehe sechs Monate vergehen, ein fri-
scher, blühender und gesunder Junge ist."
Die Frau stand auf und setzte den Knaben auf die
Erde; er sah den Doktor mit ängstlicher und ärgerlicher
Miene an, aber er ging. Der Doktor erhob die Augen,
sah mich und kam freundlich auf mich zu. Ich hatte meinen
Mann gefunden. Den Knaben aber sah ich später ost auf
dem Heuwagen mit seinen vier Pferden lustig nach dem
Hofe fahren und dachte bei seinem freundlichen Gruß stets
an den klugen Dorfarzt.

Die Jahreszeiten.
(Schluß des Frühlings.)
Siebentausend Fuß über der Meeresfläche beginnt der
große Eisozean, der die unbewohnbaren Alpenthäler füllt,
indem er unaufhörlich friert, anflhaut und hinabftrömt.
Savosüre und Andre haben behauptet, diese Eisseen seien
in ihrer größten Dicke sechs oder achthundert Fuß tief. Sie
haben tiefe Risse, und wenn sie sich den großen Abgründen
nähern, in die sie wie Kataracte hinabstürzen, zersplittern
sie nach allen Richtungen und starren wieder wie Riffe
und Miuarets in die Höhe. Darunter hin ziehen sich viele
Gänge und Höhlen, durch welche die Bäche strömen, die
sich aus den schmelzenden Eisstückcn bilden. Diese unzäh-
ligen Ströme, welche sich in einen sammeln, wenn sie sich
der Grenze des Eisbergs nähern, rauschen unter einem
große» Eisgewölbe hervor.
Das ist die reiche Vorrathskammer -— das große
Wasserhaus, — aus welchem Gegenden gespeist werden,
die sonst unter der Hitze des Sommers verschmachten
würden.
Lasten wir uns nun von Simond zu den Alpengipfeln
führen, wo inmitten tiefster Todtenstille die Lawinen von
! Viertelstunde zu Viertelstunde mit donnerndem Gepolter
hinabstürzen, ein Geräusch, das sich ins Unendliche fortsetzt,
nicht als Widerhall, denn das Echo ist stumm unter dem
großen Leichentuch des Schnees, sondern als Folge der
Riste, die sich beim Herabstürzen großer Gletscherstücke bil-
den. Wir sahen häufig eine blaue Linie'stch plötzlich durch
ein Feld vom reinsten Weiße ziehen; dann eine zweite drü-
ber und eine dritte parallel, jedesmal mit lautem Donner,
wie von einer Kanone begleitet, die den Effekt von lang
hingezogenen Donnerschlägen machten. Zu andern Zeiten
 
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