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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Lorenz, Emil: Der politische Mythus: Probleme und Vorarbeiten
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0052
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Dr. Emil Lorenz

in teils angepaßter, teils unangepaßter Form als Ziele ihres Handelns
dem Seelenleben einer Generation gegenwärtig sind, nicht als etwas
aus einem transzendenten Ort Stammendes, sondern als im letzten
Grunde psychisch bedingte »Äußerungen« immanenter Bildungs-
gesetze der einzelnen Kulturgebiete.

Es bedarf keines Beweises, daß es zufolge der ungeheueren
Verwickeltheit auch der einfachsten Lebensvorgänge eine adäquate
Erkenntnis dieser Notwendigkeiten des geschichtlichen Werdens nicht
gibt — weder für den Historiker und den Psychologen als bloß
Erkennende, noch für den Staatsmann als denjenigen, der die Er^
kenntnis derartiger Notwendigkeiten für einen bestimmten Zeit-
punkt — temporibus inserviens — mit realen und ideellen Machte
mittein in die Wirklichkeit umsetzt.

Der Definitionen des Staates gibt es bekanntlich sehr viele,-
denn die Fäden, mit denen er, zwar in wechselnder Stärke, aber
doch allzeit fühlbar seit Beginn der Geschichte das Leben der Menschen
umspannt, sind zahlreich genug. Für uns mögen zunächst die Fest^
Stellungen genügen, die Adolf Menzel1 bezüglich der genossen-
schaftlichen und der herrschaftlichen Verbindung als der beiden
konstruktiven Elemente für den Aufbau des Staates gemacht hat.

»Die genossenschaftliche Verbindung beruht auf der Vor^
Stellung der Einheit, auf dem Gefühle der Sympathie und auf
dem Bestreben, im Interesse des Ganzen Opfer zu bringen. Der
herrschaftliche Grundzug im Staate beruht auf der Vorstellung der
Über^ und Unterordnung, auf dem Gefühle der Ehrfurcht vor den
führenden Persönlichkeiten und auf dem Willen, den anerkannten
Autoritäten zu gehorchen.«

Daneben bestehe auf Seite der Herrschenden noch das Gefühl
der Macht und der Verantwortung, auf Seite der Beherrschten das
individuelle Freiheitsgefühl als oppositionelles Moment.

Es ist gewiß, daß die angeführten kollektiven Gefühle, Willens^
regungen und Vorstellungen, welche die psychischen Träger der
beiden konstruktiven Elemente des Staates, Gemeinschaft und Unter-
ordnung, bilden, ihrerseits wieder nichts psychisch Letztes sind, sobald
wir das Problem des Staates entwicklungspsychologisch fassen. In
diesem Falle treten vielmehr Gefühle wie Vaterlandsliebe, das
dynastische Gefühl und die Heimatliebe in den Vordergrund der
LIntersuchung. Beim dynastischen Gefühl lenkt zunächst die Durchs
dringung der Idee des Herrschers mit denjenigen realitätsfremden
Motiven unsere Aufmerksamkeit auf sich, die unter dem Begriff des
Herrschertabus zusammenzufassen wären und von Freud in der
zweiten Abhandlung von »Totem und Tabu« unter dem Gesichts^-
punkt der Ambivalenz erstmals psychologisch gewürdigt wurden.

Wenn aus jenen Ausführungen die ambivalente Einstellung
der Untertanen zum Herrscher aus den Tabubeschränkungen eo-

1 Zur Psychologie des Staates, Rektoratsrede, Wien 1915.
 
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