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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Winterstein, Alfred von: Die Nausikaaepisode in der Odysee
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0361
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Die Nausikaaepisode in der Odyssee

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Die Nausikaaepisode in der Odyssee.

Von Dr. ALFRED WINTERSTEIN.

»Immer zerreißet den Kranz des Homer und zählet die Väter
Des vollendeten ewigen Werks!

Hat es dodb eine Mutter nur und die Züge der Mutter,

Deine unsterblichen Züge, Natur!« c

6 ' Schiller.

I.

7Vllen Lesern der Odyssee unvergeßlich, nimmt die Nausikaa»
/ \ episode einen Ehrenplatz im reichen Bildersaale homerischer
-Z-^Poesie ein. »Die einzige jungfräuliche Gestalt Homers«
<R. M. Meyer), in Gegensatz gestellt zu dem vielerfahrenen Dulder
und Abenteurer, einsam zurückbleibend nach der Abreise des ge-
heimnisvollen Fremdlings, mußte seit jeher auch die Phantasie des
nachschaffenden Dichters1 beschäftigen,- Sophokles und Goethe sind
hier vor allen zu nennen.

Eine eigene zauberische, . man möchte sagen, morgendliche
Stimmung umspielt den sechsten Gesang der Odyssee,- »es ist, als
ob hier ein Wunder der Liebe geschehen sollte« <Fries>. Nichts der-
gleichen geschieht: wenn sich Nausikaa vor der Stadt von Odysseus
trennt, bricht die Episode ab,- erst am Ende des siebenten Gesanges
erscheint eine kurze Abschiedsszene als Fortsetzung.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht nur der Umstand auf-
fällig dünken, daß Nausikaa im sechsten Gesang eine unverhältnis-
mäßig große Rolle spielt, um dann fast spurlos zu verschwinden,
er wird auch an manchem anderen Widerspruch Anstoß nehmen.
Kritiker haben daraus die Folgerung abgeleitet, daß die Nausikaa»
episode ein Vorsatzstück zu dem Phäakenabenteuer des Odysseus
bildet, das aus einem poetischen Bruchstück unsicherer Herkunft ent-
standen ist,- der frühere, urprüngliche Zusammenhang muß ein anderer
gewesen sein als in der Odyssee. Ohne Rücksicht auf die psycho»
logische Motivierung haben dann einige Forscher, von einer vor-
gefaßten Meinung über die sittlichen Anschauungen einer primitiven

1 Einer der ältesten meliscben Diditer, Alkman, behandelt die Begegnung
des Odysseus und der Nausikaa in einem umfangreichen Gedicht, aus dem noch
mehrere Fragmente erhalten sind. In komödienhafter Weise haben den Stoff be-
arbeitet: Philyllios in den TJAvwQLaL f] NavOi~/.äa, Eubulos in der Navotxäa und
vielleicht Alexis im ’Odvooevg äjtov^ö/i£vog. Von Ovi-ds.Jugendfreund Tuticanus
stammt ein episches Odyll: Phaeacis. Über Nausikaatragödien siehe den Schluß
meiner Untersuchung.
 
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