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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Levy, Ludwig: Die Kastration in der Bibel
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0405
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Die Kastration in der Bibel

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Die Kastration in der Bibel.

Von Dr. LUDWIG LEVy, Brünn.

Noah, der Ackersmann, fing an, Weinberge zu pflanzen, und als er von
* dem Weine trank, wurde er trunken und entblößte sich in seinem
Zelt. Als Cham, der Vater des Kenaan, die Scham seines Vaters
sah, . . . Lind er teilte es seinen beiden Brüdern draußen mit. Lind Sem
und Jafeth nahmen das Gewand, legten es auf ihre Schulter, gingen damit
rückwärts und bedeckten die Scham ihres Vaters. Ihr Gesicht aber war
nach rückwärts gewandt, so daß sie die Scham ihres Vaters nicht sahen.
Als nun Noah aus seinem Rausch erwachte, da erkannte er, was sein
jüngster Sohn ihm angetan hatte. Lind er sprach: Verflucht sei Kenaan,
ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern«. So lesen wir in der Genesis
Kap. 9, V. 20 f. Es ist klar, daß hier eine Lücke im Text ist, Hätte Cham
seines Vaters Scham nur angesehen, könnte der Erzähler nicht berichten,
daß Noah aus seinem Rausch erwachend, erkannte, was sein jüngster Sohn
ihm »angetan« hatte. Auch würde der furchtbare Fluch in keinem Ver-
hältnis zur geringen Schuld stehen. An der ausgemerzten Stelle muß berichtet
worden sein, daß Cham seinen Vater entmannt hat. In der Tat hat schon
der Talmud Chams LIntat so aufgefaßt. In b. Sanh. 70a lesen wir: Noah
erwachte von seinem Rausch und erkannte, was ihm sein jüngster Sohn
angetan hatte. WSi na« “im 1E1D i&K -in bNittn Di

»Hierüber streiten Rabh und Samuel,- der eine sagt, er habe ihn kastriert,
der andere sagt, er habe mit ihm geschlechtlichen Umgang gehabt. Der, der
sagt, er habe ihn kastriert, meint: weil er ihn verhinderte, einen vierten
Sohn zu zeugen, wurde sein eigener vierter Sohn von Noah verflucht«.

Raschi akzeptiert diese Tradition, Seforno erwähnt nur die Kastration
und trifft damit zweifellos das Richtige. Das beweist audi der Fluch.
Zeugungskraft und Macht sind dem primitiven Menschen eins, das Zepter
ist Symbol des Phallus. Cham hat seinen Vater der Zeugungskraft beraubt,
so wird nach dem Vergeltungsrecht seinem Stamm, Kenaan, die Macht
genommen. Kenaan wird der niedrigste Knecht seiner Brüder. Schon der
Talmud hat gefühlt, daß jus talionis dem Fluch zugrundeliegt, wenn er es
auch nicht ganz richtig gedeutet hat. Es bliebe noch zu erklären, warum
gerade Chams vierter Sohn Kenaan verflucht wird,

Der Mythus will die spätere Unterjochung der Kenaaniter durch Sems
Nachkommen rechtfertigen. Die Eroberung des Landes durch Israel wird
schon durch den Fluch der Urzeit vorbereitet und durch den Glauben an
ein moralisch verdientes Schicksal des Unterlegenen gerechtfertigt. In geschieht^
lieber Zeit wird die sittliche Entartung der Kenaaniter als LIrsache ihres Untere
ganges hingestellt, eine Schuld, die eben der Mythus dem Stammvater zuschreibt.

*

Weiter lesen wir in der Genesis <35, 21): »Israel brach auf und
schlug sein Zelt auf jenseits von MigdaLEder. Als nun Israel in jenem
Lande wohnte, ging Rüben hin und wohnte der Bilhah, dem Kebsweib
seines Vaters bei. Als aber Israel das hörte, . . .« Hier bricht der Text
unvermittelt ab, die Fortsetzung lautet: »der Söhne }akobs gab es zwölf«.
Wieder ist etwas unterdrückt, worüber Spätere entsetzt waren. Sdron die
Massora deutet die Lücke durch die Piska mitten im Verse an. Im Talmud
Meg. 25b verbietet ein Gelehrter, bei der Thoravorlesung die Stelle zu
 
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