Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

DOI Artikel:
Abraham, Karl: Der Versöhnungstag: Bemerkungen zu Reiks "Probleme der Religionspsychologie"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0090
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
80

Dr. Karl Abraham

Der Versöhnungstag.

Bemerkungen zu Reiks »Probleme der Religionspsychologie«.
Von Dr. KARL ABRAHAM.

Den Lesern dieser Zeitschrift sind Reiks frühere Abhandlungen
über die »Couvade« und über die »Pubertätsriten« bekannt.
Der Autor hat sie mit zwei weiteren bisher unveröffentlichten
Aufsätzen, betitelt »Kolnidre« und »Das Schophar«, zu einem Buch
vereinigt, das kürzlich unter dem Namen »Probleme der Religions^
Psychologie« <1. Teil)1 erschienen ist. In diesen neuen, auf sorgfältige
Literatur» und Quellenforschung gegründeten Abhandlungen wendet
Reik das Rüstzeug der psychoanalytischen Wissenschaft mit über-
raschendem Erfolg auf zwei vielumstrittene Fragen des religiösen
Rituals an. Die folgenden Zeilen sollen die Aufmerksamkeit auf
Reiks ausgezeidmete Untersudiungen lenken, zugleich aber eine
Anzahl notwendig scheinender Ergänzungen sowie kritischer Be»
merkungen zu des Autors Ergebnissen bringen und damit einen
Beitrag zum psychoanalytischen Verständnis des jüdischen Ver»
söhnungstages und seiner Riten liefern.

Die Kolnidre»Formef, die zu Beginn des Versöhnungstages,
d. h. als Einleitung des Vorabendgottesdienstes in feierlicher Weise
vorgetragen wird, enthält eine vorgreifende Annullierung von Ge»
lübden, Entsagungen, Verwünschungen, Eiden und anderen Ver-
pflichtungen für die Zeit bis zum nächsten Versöhnungstage. Der
Sinn der Formel ist oft mißverstanden und nie befriedigend erklärt
worden. Sie steht in unvereinbarem Gegensatz zu der sonstigen
Schätzung eidlicher Verpflichtungen im Judentum. Um diesen Gegen-
satz verständlich zu machen, untersucht Reik die geschichtliche Ent»
widdung des Eides und findet dessen Urform in der sogenannten
»B'rith«, einer Art von Bund, wie er z. B. von Jahwe mit den
Erzvätern gesddossen wird. Auf seiten Gottes enthält dieses Bündnis
die Verpflichtung zum Schutze seiner Kinder. Auf der letzteren
Seite steht dem gegenüber die Entsagung von jedem Attentat auf
den Vatergott. Dieses Bundesverhältnis wird aus der Gefühls-
einstellung primitiver menschlicher Gemeinschaften zu ihrem Totem,

1 Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Sigm, Freud. Internationaler Psycho»
analytischer Verlag 1919.
 
Annotationen