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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Goja, Hermann: Das Zersingen der Volkslieder, [1]: ein Beitrag zur Psychologie der Volksdichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0159
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Das Zersingen der Volkslieder

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eine Änderung des Liedes infolge Änderung des ihm zugrunde^
liegenden Wunsches. Wir werden sehen, daß dieser Satz noch stark
ergänzt werden muß, um zu einer Definition des Zersingens zu
werden. Es wird sich auch zeigen, daß auch das Dichten ein viel
zusammengesetzterer Prozeß ist, als eine einfache Illudierung einer
Zielvorstellung. Für den Augenblick seien wir aber zufrieden, dieses
Fundament gebaut zu haben und gehen zur Betrachtung einiger
Lieder über, welche die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung
bestätigen.

Beispiele.

Um die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung nachzuweisen,
wähle ich zunächst ganz einfache Beispiele, Lieder, deren Diditer
und Sänger noch ein verhältnismäßig einfaches Bewußtsein besessen
haben. Aus Liedern komplizierten Bewußtseins, in denen gleichzeitig
mehrere Wünsche enthalten sind, welche alle in das Lied eintreten
und sich dabei gegenseitig beeinflussen, die Bestätigung der ent-*
wickelten Theorie zu holen, wäre schwer. Nehmen wir daher Jene
Lieder aus den Anfängen der Kunstlyrik, welche wir als die ältesten
anzusprechen pflegen. Wohl sind diese Lieder Kunstlieder, keine
Volkslieder, sie sind aber ihrem Ursprung, der Volkslyrik, noch so
nahe, daß man sie hier betrachten kann. Außerdem gilt die behauptete
Tendenz für jede Dichtung, also für die Kunstlyrik ebenso wie für
die Volksdichtung,

Vogt charakterisiert diese Anfänge folgendermaßen1 <und zwar
zunächst die Lyrik des Kürenbergers); »Die Gattung der Liebes-
botschaft ist mehrfach vertreten, und wie sie Gelegenheit bietet, auch
den Empfindungen der Frau Ausdruck zu leihen, so werden denn
nach dieser Analogie auch andere, monologische Strophen der Lie-
benden in den Mund gelegt. Die Sehnsucht nach dem entfernten
Geliebten, die Trauer über seine Entfremdung spricht sich dabei in
so schlichter Naturwahrheit aus, daß man wirklich auf weibliche
Autorschaft schließen möchte, wenn nicht andere Sänger dieser Zeit
in ganz gleichartigen Liedchen die Frau ausdrücklich erst redend ein-
führten, und wenn nicht der Nürnberger selbst gelegentlich in der Dar-
stellung weiblichen Empfindens doch deutlich die männliche Auffassung
verriete,« Einen Satz später schreibt er wieder: »Hingebende Sehn^
sucht und ängstliche Sorge um das Bestehen der Liebe werden nur
als Empfindungen des Weibes dargestellt. Das gilt für Kürnbergers
Lieder und für die älteste nationale ritterliche Lyrik überhaupt, wie
sie uns noch in einigen anonymen Liedern usw. entgegentritt.« Die
in diesen Sätzen ausgesprochene Auffassung des ältesten Minne-
sangs deckt sich mit der heute allgemein üblichen vollständig. Dieser
Inhalt der ältesten Minnelieder ist auffallend. Er ist die liebende

1 Friede. Vogt in P. Gr„ II, 1, S. 178.

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