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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Pfister, Oskar: Die Entwicklung des Apostels Paulus: eine religionsgeschichtliche und psychologische Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0284
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Dr. O. Pfister

im zitierten Gebote besonders illustriert wird. Jedermann weiß, daß
Knaben auch ohne das mosaische Gebot von klein auf dem Neid
unterworfen zu sein pflegen, so daß also nicht erst ein Verbot die
Aufmerksamkeit auf begehrenswerte Gegenstände richtet und das
Begehren nach ihnen weckt. Dagegen ist jedem Erzieher bekannt,
daß noch heute das zehnte Gebot neben dem siebenten {Verbot des
Ehebruchs) bei manchen Kindern das Augenmerk auf geschlechtliche
Dinge hinwendet und das erste bewußt bleibende sexuelle Gelüsten
hervorruft. Warum sollte es bei Paulus nach seinem angeführten
Geständnis anders gewesen sein? Täte man seiner Ehre dadurch
Abbruch? Oder findet jemand eine plausiblere Erklärung seiner
Aussage?

Wie viele Knaben erleiden noch jetzt, und zwar nicht ganz
selten unter dem Einflüsse der alttestamentlichen Geschichte oder
des Beichtstuhles eine ebensolche Aufrüttelung der Sexualität! Be*
sonders bei beginnender Pubertätsentwicklung werden solche Inhalte,
auch wenn sie früher kalt ließen, stark gefühlsbetont.

Auch der Ausdruck: »Als das Gebot kam, lebte in mir die
Sünde auf und ich starb«, geht gewiß nicht in erster Linie auf
Sünden, die aus Gelüsten nach fremder Habe stammen, sondern,
wie die Beobachtung lebender Knaben beweist, auf die andere von
Paulus angedeutete Gruppe von Fehltritten und unerlaubten Phan*
tasien. In vielen Hunderten von Analysen maximalen Schuldgefühls
erwies sich neben verdrängten Todeswünschen gegen die Eltern das
wirkliche oder nur in der Vorstellung vollzogene Sexualdelikt als
die stärkste Triebfeder. Von verdrängten Todeswünschen ist jedoch
bei Paulus nichts nachzuweisen. Kleinere Sünden, die sicher nicht
erst durch die Begegnung mit dem mosaischen Gebot hervorgerufen
wurden, bewirken sicher nicht einen Seelentod,

Des Paulus Geständnis besagt somit: Erst durch die Warnung
des Gesetzes vor ehebrecherischen Gelüsten wurde dieses bei ihm
erregt und es trat ein Zustand des Geistestodes ein. In Überein*
Stimmung damit warnt er: »Wenn ihr nach dem Fleische lebt, so
werdet ihr sterben müssen« <Röm. 8, 13). So wenig wie an der
früheren Stelle, ist hier vom physischen Tod die Rede. Wir werden
uns sehr bald mit dem Begriff des Fleisches etwas näher ausein*
anderzusetzen haben und unsere Hypothese bestätigt finden.

Wie bei sehr zahlreichen Heranwachsenden, die eine reli*
giöse Bekehrung erleben, hängt auch die des jungen Paulus offen*
bar mit Konflikten der Pubertätsentwicklung zusammen1. Daß lange
Kämpfe voller Depressionen, Angstgefühle, unerfüllter Hoffnungen für
ihn auszufechten waren, läßt sich ex analogia mit Sicherheit annehmen.

1 Sogar statistisch läßt sich die Tatsache dieses Zusammenhanges nach»
weisen, vgl. Starbude, Psychology of Religion. Ein Zetergeschrei, wie es gegen
Berguer erhoben wurde, als er auf die Möglichkeit derartiger Entwiddungs»
Vorgänge im Leben Jesu hinwies, löst die psychologische Frage nicht, sondern
bildet nur ein betrübendes Zeichen der Unfähigkeit zu psychologischem Denken.
 
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