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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 6.1920

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Eisler, Michael Josef: Über einen besonderen Traumtyp: Beitrag zur Analyse der Landschaftsempfindung
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https://doi.org/10.11588/diglit.25677#0350
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Dr. Michael Josef Eisler

bei näherer Betrachtung erweist es sich jedoch, daß — ähnlich wie
bei unseren einleitenden zwei Traumbeispielen — hinter der klaren
Gradlinigkeit des Naturbildes alle dynamischen Kräfte des Unbe-
wußten am Werke sind. Dieses nun an Tolstoi darzulegen ist
unsere nächste Aufgabe.

Die Naturschilderungen in seinem Werke sind sehr zahlreich
und decken durch abwechslungsvolle Originalität tiefe Bezüge zum
Persönlichen des Dichters auf. In der Form der Darstellung sind sie
ebenfalls von einer stark packenden Neuheit, die ihren Wert nicht
minder erhöhen. Manche Erzählungen, wie »Im Schneesturm«, oder
»Herr und Knecht« werden getragen von einer ungemein gesteigerten
Empfänglichkeit angesichts der Naturereignisse, die mit der Scharf-
sichtigkeit eines Naturwesens und mit den verfeinerten Sinnen eines
Kulturmenschen empfunden werden. Eine unerschöpfliche, fast grau-
same Freude an der sichtbaren und greifbaren Welt lebt in ihnen
so stark, daß die Menschenschicksale daneben nichtig und schatten-
haft werden. Mit Rücksicht auf den festgelegten Kreis dieser Unter-
suchungen wollen wir zwei Beispiele aus anderen Werken Tolstois
heranziehen, die eine gewisse Äbgerundheit zeigen und mit unserem
Hauptthema, das eine bestimmte Traumform betrifft, in nähere Be^
Ziehung gebracht werden können.

Der kleine Roman »Die Kosaken« (geschrieben im Jahre 1852)
enthält bereits ein wichtiges Motiv, das Tolstoi im Leben hinfort
begleiten und mehr als ein halbes Jahrhundert später sein Ende
mitbestimmen sollte: die Flucht aus der ihn unmittelbar umgebenden
Welt. Sein Held, der junge Offizier Olenin — ein dichterisches Selbst^
porträt " entflieht der leichtsinnigen Petersburger Gesellschaft, um
die Ruhe und Klarheit der Seele wiederzufinden. Er reist in den
Kaukasus, zu »Menschen, denen gegenüber weder der Künstler,
noch der Moralist Widerstand findet in seiner Seele«1. Wir dürfen
also in den »objektiven« Szenen dieser Erzählung die Sehnsucht
nach einer völligen inneren Umgestaltung, einer Wiedergeburt ahnen.
Dieses Gefühl ist so stark im Dichter, daß ihm nicht die Charakte-
ristik des Helden, sondern die einzelner Kosaken am besten gelingt.
Auch ihr äußeres Leben trifft er meisterlich, »Nicht bloß die einzelnen
Kosaken, die mit ein paar Strichen ihre ganz eigene Unerschöpflich^
keit erhalten, audi die Schilderung von Gegenständen und äußeren
Vorgängen bleibt schlechthin unübertrefflich: Hier zum ersten Male
eigentlich werden wir den Zwang zur Nachgestaltung gewahr, die
auch die leblosen Dinge in der Seele des gebornen Künstlers Tolstoi
auslösen mußten, wenn sie in einer ganz gewissen, ihre jedesmalige
Eigenart grell erhellenden Beleuchtung vor ihn hintreten2.« Eine
solche Szene ist die folgende. Lukaschka, ein prächtiger junger Kosak,
hat sich zur nächtlichen Wacht mit den Kameraden zum Terekfluß,

1 Siehe Karl Nötzel, Tolstois Meisferjahre. Einführung in das heutige
Rußland, II, Teil. München 1918. S. 58.

2 Nötzel, 1. c., S. 63.
 
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