IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
XI. Band (1925) Psychologisches Heft
Heft 1 u. 3
Über das Verhältnis der Psychoanalyse zur
Philosophie
Portraj auf <^m Aor!g*r^/? _für P/n7o.sopA:c. Acapg/, ATo: rp2^
Von Dr. Carl Müller-Braunschweig (Berlin)
Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft. Insofern hat sie
zunächst mit Philosophie so wenig zu tun, wie nur irgendeine andere
empirische Wissenschaft, etwa die Physik oder die Chemie. Sie kann sich
ihren Gegenstand nicht schaffen, ihn nicht <z priori aus sich heraussetzen,
die Daten der Erfahrung werden ihr gegeben vom Gegenstand, hier den
psychischen Vorgängen.
Freilich, soweit jede Wissenschaft nicht nur eine Sammlung von Beob-
achtungen und Erfahrungen darstellt, sondern die Aufgabe hat, diese in
ein begrifflich einwandfreies Ganze einzuordnen, und soweit man diese
Aufgabe eine philosophische nennt, ist auch in der Psychoanalyse die
Philosophie enthalten, von der man sagt, daß jede Wissenschaft nur soweit
Wissenschaft sei. als Philosophie in ihr sei.
Der Schöpfer der Psychoanalyse, Freud, hat ihren empirischen Cha-
rakter immer betont und hat verlangt, daß alle theoretischen Subkonstruk-
tionen des Erfahrungsmaterials aufgegeben und durch neue ersetzt werden
sollten, sobald neue Beobachtungen und Erfahrungen das verlangten.
Fragen wir uns weiter, wo die Stellen sein mögen, an denen sich
Psychoanalyse und Philosophie berühren. Jede Wissenschaft kommt in
ihrem Bemühen, das Ganze ihrer Erfahrungen begrifflich zu ordnen, an
Grundbegriffe, die von einem bestimmten Punkte an nicht mehr empirisch
zu klären, sondern nur noch begrifflichen Überlegungen zugänglich sind
und zur Erkenntnistheorie hinüberführen. Auch die Psychoanalyse kennt
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
XI. Band (1925) Psychologisches Heft
Heft 1 u. 3
Über das Verhältnis der Psychoanalyse zur
Philosophie
Portraj auf <^m Aor!g*r^/? _für P/n7o.sopA:c. Acapg/, ATo: rp2^
Von Dr. Carl Müller-Braunschweig (Berlin)
Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft. Insofern hat sie
zunächst mit Philosophie so wenig zu tun, wie nur irgendeine andere
empirische Wissenschaft, etwa die Physik oder die Chemie. Sie kann sich
ihren Gegenstand nicht schaffen, ihn nicht <z priori aus sich heraussetzen,
die Daten der Erfahrung werden ihr gegeben vom Gegenstand, hier den
psychischen Vorgängen.
Freilich, soweit jede Wissenschaft nicht nur eine Sammlung von Beob-
achtungen und Erfahrungen darstellt, sondern die Aufgabe hat, diese in
ein begrifflich einwandfreies Ganze einzuordnen, und soweit man diese
Aufgabe eine philosophische nennt, ist auch in der Psychoanalyse die
Philosophie enthalten, von der man sagt, daß jede Wissenschaft nur soweit
Wissenschaft sei. als Philosophie in ihr sei.
Der Schöpfer der Psychoanalyse, Freud, hat ihren empirischen Cha-
rakter immer betont und hat verlangt, daß alle theoretischen Subkonstruk-
tionen des Erfahrungsmaterials aufgegeben und durch neue ersetzt werden
sollten, sobald neue Beobachtungen und Erfahrungen das verlangten.
Fragen wir uns weiter, wo die Stellen sein mögen, an denen sich
Psychoanalyse und Philosophie berühren. Jede Wissenschaft kommt in
ihrem Bemühen, das Ganze ihrer Erfahrungen begrifflich zu ordnen, an
Grundbegriffe, die von einem bestimmten Punkte an nicht mehr empirisch
zu klären, sondern nur noch begrifflichen Überlegungen zugänglich sind
und zur Erkenntnistheorie hinüberführen. Auch die Psychoanalyse kennt