Max Schelers Kritik und Würdigung der
Freudschen Libidolehre
Von Aurel Kolnai (Wien)
i
Die Auseinandersetzung Max Schelers mit der Freudschen Ontogenetik
der Liebesgefühle* ist aus mehreren Gründen des Beachtens wert. Scheler
ist heute, nächst dem Begründer der Richtung: Edmund Husserl, das Haupt der
fruchtbaren und einflußreichen „phänomenologischen" Schule der Philo-
sophie. Dadurch, daß er den methodologischen Grundgedanken seines Meisters
aus dem Bereiche der Logik in den der Ethik und der geistig-seelischen
Erscheinungen schlechthin verpflanzt hat, erscheint er als origineller Denker
ernstester Bedeutung." Nun faßt aber die phänomenologische Methode — wie
schon aus dem Namen hervorgeht — die Dinge am gerade entgegengesetzten Ende
an als die psychoanalytische. Sie will statt einer Metapsychologie eine Prä-
psychologie gründen, wenn wir seihst eine Bezeichnung prägen dürfen.
Statt die Erscheinungen zu erklären, zu entziffern, abzuleiten, auf einen ge-
meinsamen Nenner zurückzuführen, die Gesetze ihres Vorkommens und Ent-
stehens zu ermitteln, ist sie vielmehr bestrebt, ihr unmittelbares „Wesen"
„einsichtig" zu erschauen und mit möglichst vollkommener Fixierung und Be-
schreibung aller ihrer Spielarten sowie ihrer ideellen, statischen „Sinnzusammen-
hänge" festzuhalten.3 Diese Methode will letzten Endes nicht die Beherrsch -
1) Enthalten in Max Scheler: „Wesen und Formen der Sympathie." (Der
„Phänomenologie der Sympathiegefühle" 2., vermehrte und durchgesehene Auflage.)
Bonn: Cohen 132g. Das Werk bildet den I. Band einer Serie, betitelt „Die Sinn-
gesetze des emotionalen Lebens". Der demnächst erscheinende Band: „Wesen
und Formen des Schamgefühls" soll eine noch eingehendere Besprechung der
Freudschen Lehren bringen.
2) Nicht mit Unrecht nennt T. K. Oesterreich in dem von ihm bearbeiteten
IV. Band der Überwegschen Philosophiegeschichte Schelers Auftreten das größte
Ereignis der Ethik seit Kant.
g) Sie unterscheidet sich von der Bergsonschen Intuition, der sie nahe verwandt
ist, durch ihre Bevorzugung des statisch-begrifflichen Elementes. Die Spuren der
Phänomenologie sind hinter Husserl zurück über A. v. Meinong bis F. Brentano
zu verfolgen.
Freudschen Libidolehre
Von Aurel Kolnai (Wien)
i
Die Auseinandersetzung Max Schelers mit der Freudschen Ontogenetik
der Liebesgefühle* ist aus mehreren Gründen des Beachtens wert. Scheler
ist heute, nächst dem Begründer der Richtung: Edmund Husserl, das Haupt der
fruchtbaren und einflußreichen „phänomenologischen" Schule der Philo-
sophie. Dadurch, daß er den methodologischen Grundgedanken seines Meisters
aus dem Bereiche der Logik in den der Ethik und der geistig-seelischen
Erscheinungen schlechthin verpflanzt hat, erscheint er als origineller Denker
ernstester Bedeutung." Nun faßt aber die phänomenologische Methode — wie
schon aus dem Namen hervorgeht — die Dinge am gerade entgegengesetzten Ende
an als die psychoanalytische. Sie will statt einer Metapsychologie eine Prä-
psychologie gründen, wenn wir seihst eine Bezeichnung prägen dürfen.
Statt die Erscheinungen zu erklären, zu entziffern, abzuleiten, auf einen ge-
meinsamen Nenner zurückzuführen, die Gesetze ihres Vorkommens und Ent-
stehens zu ermitteln, ist sie vielmehr bestrebt, ihr unmittelbares „Wesen"
„einsichtig" zu erschauen und mit möglichst vollkommener Fixierung und Be-
schreibung aller ihrer Spielarten sowie ihrer ideellen, statischen „Sinnzusammen-
hänge" festzuhalten.3 Diese Methode will letzten Endes nicht die Beherrsch -
1) Enthalten in Max Scheler: „Wesen und Formen der Sympathie." (Der
„Phänomenologie der Sympathiegefühle" 2., vermehrte und durchgesehene Auflage.)
Bonn: Cohen 132g. Das Werk bildet den I. Band einer Serie, betitelt „Die Sinn-
gesetze des emotionalen Lebens". Der demnächst erscheinende Band: „Wesen
und Formen des Schamgefühls" soll eine noch eingehendere Besprechung der
Freudschen Lehren bringen.
2) Nicht mit Unrecht nennt T. K. Oesterreich in dem von ihm bearbeiteten
IV. Band der Überwegschen Philosophiegeschichte Schelers Auftreten das größte
Ereignis der Ethik seit Kant.
g) Sie unterscheidet sich von der Bergsonschen Intuition, der sie nahe verwandt
ist, durch ihre Bevorzugung des statisch-begrifflichen Elementes. Die Spuren der
Phänomenologie sind hinter Husserl zurück über A. v. Meinong bis F. Brentano
zu verfolgen.