KRITIKEN UND RE FE RATE
DEUTUNG DER PSYCHOANALYSE AUS DER
PERSÖNLICHKEIT FREUDS
Dr. EDGAR MICHAELIS, Nervenarzt in Berlin: Die Menschheitsproble-
matik der Freudschen Psychoanalyse. Urbild und Maske. Eine grund-
sätzliche Untersuchung zur neueren Seelenforschung. Verlag Johann Ambrosius
Barth, Leipzig 192g.
Die völlige Ablehnung der Psycho-
analyse, führt der Verfasser aus, sei heute
wissenschaftlich nicht mehr möglich, in
diesem Sinne sei der „Kampf um die
Psychoanalyse" bereits entschieden. Aber
an Lücken und Widersprüchen leide die
Psychoanalyse. Im Grunde genommen nur
eine Triebanalyse, beansprucht sie zu
Unrecht eine eigentliche Seelenkunde
schlechthin zu sein. Freud habe in der
Leonardo-Studie eingeräumt, das spezifi-
sche Wesen künstlerischer Leistung sei ihm
psychologisch unzugänglich und habe für
die Bestimmung der Verdrängungsneigung
und der Sublimierungsfähigkeit der Bio-
logie den Platz überlassen. Es sei höchst
sonderbar, daß gerade die höheren Stre-
bungen auf die organischen Grundlagen
des Charakters zurückgeführt werden
sollen, könnte man doch eher meinen,
daß vielmehr die primitiven animalischen
Triebe biologisch — und nicht psycho-
analytisch — erfaßbar seien. Die Grund-
lage der Freudschen Neurosenlehre sieht
Michaelis in der Lehre von den Kon-
flikten bei Nichtbefriedigung triebhafter
Wünsche; alle Problematik des Menschen
scheint also in der Frage der sexuellen Frei-
heit und Befriedigung zu wurzeln; rück-
sichtsloseBefriedigung scheint das Zeichen
des Vollmenschen zu sein. („Das allzu
häufige Mißverständnis vom ,Immoralis-
mus', das Nietzsche in ganz anderem
Sinne prägte, findet hier Nahrung.") Ge-
wissen sei nach Freud ein von außen auf-
erlegter Zwang, die Verkörperung zunächst
der elterlichen Kritik, in weiterer Folge
der Kritik der Gesellschaft. Seine Durch-
brechung zur Erfüllung der Triebbefriedi-
gung scheint durch die Psychoanalyse nicht
nur entschuldigt, sondern geradezu ge-
fordert. Und dennoch: wenn man tiefer
in die Arbeiten Freuds eindringt, finde
man, daß dies nicht seine Absicht ist.
Vielmehr sollen die Triebe gebändigt, sub-
limiert werden. „Aber gerade das Wesen
dieser Sublimierung bleibt ja im Dunkel,
und überdies hat Freud mehr als einmal
direkt Einspruch erhoben, daß etwa ,Ideale
dem Patienten aufgedrängt werden', um
DEUTUNG DER PSYCHOANALYSE AUS DER
PERSÖNLICHKEIT FREUDS
Dr. EDGAR MICHAELIS, Nervenarzt in Berlin: Die Menschheitsproble-
matik der Freudschen Psychoanalyse. Urbild und Maske. Eine grund-
sätzliche Untersuchung zur neueren Seelenforschung. Verlag Johann Ambrosius
Barth, Leipzig 192g.
Die völlige Ablehnung der Psycho-
analyse, führt der Verfasser aus, sei heute
wissenschaftlich nicht mehr möglich, in
diesem Sinne sei der „Kampf um die
Psychoanalyse" bereits entschieden. Aber
an Lücken und Widersprüchen leide die
Psychoanalyse. Im Grunde genommen nur
eine Triebanalyse, beansprucht sie zu
Unrecht eine eigentliche Seelenkunde
schlechthin zu sein. Freud habe in der
Leonardo-Studie eingeräumt, das spezifi-
sche Wesen künstlerischer Leistung sei ihm
psychologisch unzugänglich und habe für
die Bestimmung der Verdrängungsneigung
und der Sublimierungsfähigkeit der Bio-
logie den Platz überlassen. Es sei höchst
sonderbar, daß gerade die höheren Stre-
bungen auf die organischen Grundlagen
des Charakters zurückgeführt werden
sollen, könnte man doch eher meinen,
daß vielmehr die primitiven animalischen
Triebe biologisch — und nicht psycho-
analytisch — erfaßbar seien. Die Grund-
lage der Freudschen Neurosenlehre sieht
Michaelis in der Lehre von den Kon-
flikten bei Nichtbefriedigung triebhafter
Wünsche; alle Problematik des Menschen
scheint also in der Frage der sexuellen Frei-
heit und Befriedigung zu wurzeln; rück-
sichtsloseBefriedigung scheint das Zeichen
des Vollmenschen zu sein. („Das allzu
häufige Mißverständnis vom ,Immoralis-
mus', das Nietzsche in ganz anderem
Sinne prägte, findet hier Nahrung.") Ge-
wissen sei nach Freud ein von außen auf-
erlegter Zwang, die Verkörperung zunächst
der elterlichen Kritik, in weiterer Folge
der Kritik der Gesellschaft. Seine Durch-
brechung zur Erfüllung der Triebbefriedi-
gung scheint durch die Psychoanalyse nicht
nur entschuldigt, sondern geradezu ge-
fordert. Und dennoch: wenn man tiefer
in die Arbeiten Freuds eindringt, finde
man, daß dies nicht seine Absicht ist.
Vielmehr sollen die Triebe gebändigt, sub-
limiert werden. „Aber gerade das Wesen
dieser Sublimierung bleibt ja im Dunkel,
und überdies hat Freud mehr als einmal
direkt Einspruch erhoben, daß etwa ,Ideale
dem Patienten aufgedrängt werden', um