5°6
Dr. Gustav Hans Gräber
es dir schlimm ergehen. Denn der Geier war ein verzauberter König und
das Spinnrad seine Frau. Die Hexe hörte nicht auf des Geiers Worte, sondern
spann immer weiter. Eines Tages wurde die Alte sehr krank und mußte
sterben. Der Geier und das Spinnrad wurden wieder zu Menschen verwandelt
und lebten vergnügt zusammen. Die abscheuliche Hexe hatte auch noch andere
Menschen gequält und zu Bäumen und zu Steinen gemacht. Nun, diese alle
wurden auch erlöst. Seitdem die Hexe gestorben war, kam in der Nacht immer
ein schwarzes Ungetüm hervor. Das war grausig anzusehen.''
Die enge Verknüpfung der Begriffe Frau und SpindeU hat sich auch
auf die Spinne übertragen, die ja Gerät (Berner Mundart = Spinnele
= Spindel) und Spinnerin zugleich ist.
Die Spindel ist aber nicht bloß als Frauensymbol bekannt, sondern wegen
ihrer Form und der Fähigkeit des Stechens auch als männliches Sexualsymbol.
Das geht schon daraus hervor, daß man den Begriff Spindel auch für die
in das Muttergewinde einzudrehende Schraube verwendet. Es war Volks-
glaube, — wir begegnen ihm in Märchen wieder —- daß die Spindel den
Freier ins Haus bringt. Bei Frey tag finden wir die Stelle: „Die Spindel
stach in den Finger, das bedeutet Besuch'' (Tr).
Im Märchen „Dornröschen" sticht die Spindel die reif gewordene Jung-
frau. Ihr hundertjähriger Schlaf entspricht dem Liebestod, der Hingabe.
Es ist dieselbe Symbolik wie diejenige von Amors Pfeil. Ein elfjähriger
Knabe erzählte mir folgende Phantasie:
„Ein König hatte einen Sohn, welcher sehr abenteuerlustig war. Nun
ging im Lande die Kunde von einer Spinnerin, die auf einem Berge wohne.
Eines Tages stieg der Prinz den Berg hinauf. Als er in die Hütte trat, kam
ihm die Spinnerin entgegen und sprach: Auf der andern Seite des Berges
findest du eine Höhle mit großen Schätzen, rühre aber nichts an, sondern
hole mir eine Spindel. Der Prinz gehorchte. Als er nach einiger Zeit wieder
1) Nach C.Kohlrusch: Schweizerisches Sagenbuch (Leipzig 1854) wird die Spinnerin
Bertha, die Burgunderkönigin, mit der Mythe verknüpft: Frigga — Peratha, später
Perchta, Bertha. — „Frigga . . . die zeugende und gebärende Erdgöttin, die man sich
als Spinnerin vorstellte und der man als Attribut die Spindel, als Zeichen der Weib-
lichkeit, beigab — eine Symbolik, welche auch die römische und indische Mythologie
auf die Vertreterinnen des Prinzips der zeugenden Kraft anwandte." — Dazu als Fuß-
note : „Diana, welche als Geburten befördernde Mondgöttin mit Juno, welche sich
mit ihr in diese Wirksamkeit teilt, den gemeinschaftlichen Namen Luc in a führt,
nennt Homer ,die Göttin mit der goldenen Spindel' (Iliad. 16, 184), während
letztere Göttin als Juno Pronuba (Vorsteherin der Ehen) mit einem Spinnrocken ab-
gebildet und ihre Tochter, die Geburtsgöttin Ilithya, als Spinnerin gedacht wurde.
Ebenso stellt man sich die syrische Venus mit dem Attribut der Spindel vor usw."
Dr. Gustav Hans Gräber
es dir schlimm ergehen. Denn der Geier war ein verzauberter König und
das Spinnrad seine Frau. Die Hexe hörte nicht auf des Geiers Worte, sondern
spann immer weiter. Eines Tages wurde die Alte sehr krank und mußte
sterben. Der Geier und das Spinnrad wurden wieder zu Menschen verwandelt
und lebten vergnügt zusammen. Die abscheuliche Hexe hatte auch noch andere
Menschen gequält und zu Bäumen und zu Steinen gemacht. Nun, diese alle
wurden auch erlöst. Seitdem die Hexe gestorben war, kam in der Nacht immer
ein schwarzes Ungetüm hervor. Das war grausig anzusehen.''
Die enge Verknüpfung der Begriffe Frau und SpindeU hat sich auch
auf die Spinne übertragen, die ja Gerät (Berner Mundart = Spinnele
= Spindel) und Spinnerin zugleich ist.
Die Spindel ist aber nicht bloß als Frauensymbol bekannt, sondern wegen
ihrer Form und der Fähigkeit des Stechens auch als männliches Sexualsymbol.
Das geht schon daraus hervor, daß man den Begriff Spindel auch für die
in das Muttergewinde einzudrehende Schraube verwendet. Es war Volks-
glaube, — wir begegnen ihm in Märchen wieder —- daß die Spindel den
Freier ins Haus bringt. Bei Frey tag finden wir die Stelle: „Die Spindel
stach in den Finger, das bedeutet Besuch'' (Tr).
Im Märchen „Dornröschen" sticht die Spindel die reif gewordene Jung-
frau. Ihr hundertjähriger Schlaf entspricht dem Liebestod, der Hingabe.
Es ist dieselbe Symbolik wie diejenige von Amors Pfeil. Ein elfjähriger
Knabe erzählte mir folgende Phantasie:
„Ein König hatte einen Sohn, welcher sehr abenteuerlustig war. Nun
ging im Lande die Kunde von einer Spinnerin, die auf einem Berge wohne.
Eines Tages stieg der Prinz den Berg hinauf. Als er in die Hütte trat, kam
ihm die Spinnerin entgegen und sprach: Auf der andern Seite des Berges
findest du eine Höhle mit großen Schätzen, rühre aber nichts an, sondern
hole mir eine Spindel. Der Prinz gehorchte. Als er nach einiger Zeit wieder
1) Nach C.Kohlrusch: Schweizerisches Sagenbuch (Leipzig 1854) wird die Spinnerin
Bertha, die Burgunderkönigin, mit der Mythe verknüpft: Frigga — Peratha, später
Perchta, Bertha. — „Frigga . . . die zeugende und gebärende Erdgöttin, die man sich
als Spinnerin vorstellte und der man als Attribut die Spindel, als Zeichen der Weib-
lichkeit, beigab — eine Symbolik, welche auch die römische und indische Mythologie
auf die Vertreterinnen des Prinzips der zeugenden Kraft anwandte." — Dazu als Fuß-
note : „Diana, welche als Geburten befördernde Mondgöttin mit Juno, welche sich
mit ihr in diese Wirksamkeit teilt, den gemeinschaftlichen Namen Luc in a führt,
nennt Homer ,die Göttin mit der goldenen Spindel' (Iliad. 16, 184), während
letztere Göttin als Juno Pronuba (Vorsteherin der Ehen) mit einem Spinnrocken ab-
gebildet und ihre Tochter, die Geburtsgöttin Ilithya, als Spinnerin gedacht wurde.
Ebenso stellt man sich die syrische Venus mit dem Attribut der Spindel vor usw."