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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 11.1925

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Heft 3
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Hermann, Imre: Zwei Überlieferungen aus Pacals Kinderjahren
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https://doi.org/10.11588/diglit.36528#0364

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54-8

Dr. Imre Hermann

Sie erhob sich aber wieder und sagte, sie habe den Morgen vergessen voraus-
zusagen, daß das Kind bis Mitternacht tot scheinen würde, dann werde es aber
wieder zu sich kommen. Ob es nun gleich alle Kennzeichen des Todes hatte,
befahl er, man solle es gehen lassen, man spottete aber über seine Leichtgläubig-
keit, da er sonst nicht die Gewohnheit hatte, diesen Leuten zu glauben.
So blieben denn meine Großeltern immer bei dem Kinde, da sie sich auf
niemand sonst verließen; sie hörten eine Stunde nach der anderen schlagen,
endlich auch Mitternacht, ohne daß das Kind ein Lebenszeichen gegeben.
Endlich zwischen Mitternacht und ein Uhr, doch war es näher bei Eins,
fing das Kind an zu gähnen. Mit Erstaunen nahm man es auf und erwärmte
es; man gab ihm Wein und Zucker, den es verschluckte; darauf nahm es die
Brust der Amme, doch ohne Zeichen von Bewußtsein zu geben, ohne die
Augen zu öffnen. Dies währte bis sechs Uhr des Morgens; da es nun aber
seinen Vater und seine Mutter beisammen sah, fing es an, nach seiner Ge-
wohnheit zu schreien. Daraus sah man, daß es noch nicht ganz geheilt worden,
war aber doch darüber getröstet, daß es nicht tot war. Etwa sechs oder sieben
Tage nachher fing es an, den Anblick des Wassers zu ertragen; als mein
Großvater eines Tags von der großen Messe zurückkam, fand er es, wie es
in den Armen seiner Mutter spielte, indem es Wasser aus einem Glas ins
andere goß. Er wollte sich nähern, aber das Kind konnte ihn noch nicht
ausstehen; dies geschah erst nach einigen Tagen, und nach drei Wochen war
es völlig geheilt und bekam wieder seine frühere gesunde Fülle."
So weit die Geschichte! Nun aber wollen wir auch einige Hinweise zur
Deutung geben. Die ganze Geschichte ist sozusagen um den Vater gruppiert;
er arrangiert die Szene mit der Hexe, er hat der Frau Leid angetan, er läßt
die Katze opfern (nachdem er ein Pferd angeboten hat), er gibt der Hexe die
Ohrfeige, er nähert sich der Mutter, als das Kind doch noch mit Schreien
reagiert. Die Geschichte scheint, so könnte man das Ganze einstellen, eine Ge-
schichte des Vaters, nicht des Sohnes zu sein. Es scheint, der Vater ist schuld
an etwas, es scheint, sein Gewissen sei nicht rein, er scheint etwas Böses zu
wünschen und gibt der besseren Einsicht nur langsam nach. Was kann dieses
Böse gewesen sein? Nun eben das, was fast eintritt und was er quasi abkaufen
muß: der Tod des Sohnes. Die Hexe führt zuerst seine unbewußten Ab-
sichten aus, dann kommt das Gespräch mit seinen unbewußten Regungen (mit
der Hexe), er will in seiner ersten Empörung sich selbst opfern (Pferd), dann
aber wird nur das weibliche Genitale geopfert;^ er verzichtet auf sein Vater-
recht, auf den geschlechtlichen Verkehr (nota war Blaise zwei Jahre alt, als

1) Vielleicht will die Geschichte durch die Verschenkung der zweiten Katze die
Aufopferung der Mutter andeuten — sie starb, als Blaise drei (höchstens fünf) Jahre
alt war. Auch ein formaler Dual schritt ist hier im Werke. — Die Schwester Jac queline
ist als „die geistige Zwillingsschwester von Blaise zu betrachten" (S. 2) und in der
krankhaften Idee von Blaise, auf seiner linken Seite einen Abgrund zu sehen, können
wir vielleicht, als eines der gewiß nicht vielen Motive, den Verlust dieses intimen
Verhältnisses — Jacqueline wurde Nonne — zu erblicken. Zur Beruhigung dieser
Phobie ließ Blaise einen Stuhl hinstellen.
 
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