Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 11.1925

DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:
Robitsek, Alfred: Der Kotillon: ein Beitrag zur Sexualsymbolik
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.36528#0437

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Kotillon
Von Dr. Alfred Robitsek (Wien)

Die gesellschaftliche Sitte ist das Produkt einer langen Kulturentwicklung
im Sinne der Triebverdrängung; die Formen, die den gesellschaftlichen
Verkehr zwischen den Geschlechtern bestimmen, sind Resultat der Sexual-
verdrängung. Man kann diesen Prozeß demjenigen vergleichen, welcher
der Zwangsneurose und ihrem Zeremoniell zugrunde liegt: diese entsteht
durch die Verschiebung des Affektes von einem Wesentlichen auf ein
Nebensächliches, das durch diesen Vorgang seine Bedeutung und den Zwangs-
charakter erhält, während das Wesentliche affektentkleidet und vergessen
wird. Ähnlich können wir uns die Entstehung des gesellschaftlichen Zere-
moniells vorstellen: ein langer Kulturprozeß verschiebt einen Teil des Affektes
vom Wesentlichen, das jedes Verhältnis zwischen den Geschlechtern bestimmt,
der Sexualität, auf ein Nebensächliches, das erst geschaffen wird, das Zere-
moniell, die Sitte, deren strenge Einhaltung von der Gesellschaft erzwungen
wird. Die „Amnesie" besteht bei diesem gesellschaftspsychologischen Prozeß
darin, daß sich der gesellschaftliche Verkehr offiziell so abspielt, als gäbe
es keine Sexualität. Es scheint, als hätte diese Verdrängung ihren Tief-
stand erreicht und wäre im Zurückgehen begriffen. Der Verkehr der Jugend
ist ein freierer, natürlicherer geworden, doch offiziell verpönt die Sitte jede
Anspielung auf die geschlechtlichen Beziehungen. Eine strenge Zensur
herrscht, ein jeder ist Zensor. Wie die Inzestverdrängung die Familie er-
möglicht, ein Vorgang, der, wie die Psychoanalysen zeigen, noch immer
fluktuierend ist, so beruht die gesellschaftliche Sitte auf der Sexualverdrän-
gung. Im Kampf zwischen Trieb und Verdrängung, Lebensnotwendigkeiten
und Forderungen der Sitte bilden sich Kompromisse, Gelegenheiten, bei
denen die Zensur nachläßt, öffentlich ein sexueller Kontakt erlaubt ist, dem

28+
 
Annotationen