Literatur. I. Der Zeichenunterricht im Jahre 1905.
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würde überschätzt, wollte man alles Heil für die künstlerische Erziehung der Jugend
allein von ihm erwarten. Vielerlei Umstände müssen hier einheitlich Zusammen-
wirken, um die Grundmauern zu legen, auf denen das spätere Leben die Ausbildung
weiter vollzieht. Die Vorführung und Besprechung guter Bildwerke liefert zu
diesem Ausbau gewichtige Bausteine. Nach welchen Gesichtspunkten derartige
Bilderbesprechungen erfolgen können, zeigt P.Quensel in der Broschüre „Meister-
bilder und Schule (München, Callwey. 0,75 Mk.) und Hans Rosenhagen be-
spricht in der Gartenlaube Jg. 1905, S. 275—279 in volkstümlicher Weise das Thema
„Wie sollen wir Bilder betrachten?", wobei er das mit Bewußtsein voll-
zogene Sehen (sachliches und künstlerisches, verstandesgemäßes Sehen und Emp-
finden) in allen seinen Phasen erläutert. Verschiedene Autoren verlangen indessen
ein tieferes Eingehen auf die Kunstwerke, als es das bloße Anschauen zu bewirken
vermag72). So beklagt Dr. Leisching in dem Vortrage „Kunst und Schule73),
daß einzelne Führer in der heutigen Bewegung zur Förderung der Kunst in der
Schule den Wert einer sachgemäßen historischen Grundlage für die Einschätzung
der Kunstwerke bestreiten. Er ist der Meinung, ohne geschichtliche Kenntnis kann
auch der gesundeste Menschenverstand, das lebhafteste Gefühl, die beste Anlage
nie ganz eindringen in den Geist und die Absichten bedeutender Kunstschöpfungen.
Er tritt deshalb für die Kunstgeschichte als Lehrfach an den Lehrerseminarien ein.
Die sächsischen Lehrerbildungsanstalten fordern eine Übersicht über die geschicht-
liche Entwicklung der Kunst. P. Gehler trägt diesem Verlangen Rechnung durch
sein Werkchen „Hauptmerkmale der architektonischen Baustile. Merk-
stoff für Schüler höherer Lehranstalten" (Leipzig, Köhler). M. Spanier
stellt in der Sammlung „Zur Kunst. Ausgewählte Stücke moderner Prosa
zur Kunstbetrachtung und zum Kunstgenuß" (Leipzig, Teubner.) kurze Ab-
handlungen von Avenarius, Seidlitz, Springer, Hirth, Lichtwark, Furtwängler, Urlichs,
Bürckner, Bayersdorfer, Wölfflin, Justi, Schulze-Naumburg, Gurlitt, Brinckmann,
Floercke, Hans Thoma zusammen, um durch diese Arbeiten Stimmung für die
Kunst zu machen.
Die Bewegung, die Kunst dem Volke nahe zu bringen, prägte die Schlager
„Volkskunst" und „Heimatkunst"74), Begriffe, die vielfach falsch gedeutet,
vielfach miteinander identifiziert worden sind. Was unter Volkskunst zu verstehen
ist, erklärt Karl Dietrich in der Abhandlung „Volkskunst und Volksdichtung
als soziologische Faktoren", wobei er R. Mielkes Ausführungen über Volks-
kunst entgegentritt.
Der Verein Leipziger Zeichenlehrer gab im Jahre 1905 ein interessantes
Schriftchen „Wie wir unsere Heimat sehen. Anregungen zur intimen
Betrachtung der LeipzigerHeimat" (Leipzig, Scheffer.) heraus. Das Büchlein
hat vorbildlich gewirkt, und so ließen G. Neumann und O. Schwindrazheim
unter demselben Titel zwei weitere Heftchen in demselben Verlage erscheinen,
von denen das des erstgenannten Verfassers Thüringens Perle, Rudolstadt, das
des zweiten Autors die alte Hansastadt Hamburg schildert.
Ein wertvoller Beitrag zu dem Thema „Kunst auf dem Lande" ist
Sohnreys Buch gleichen Titels (Bielefeld, Velhagen und Klasing)73). Die Zahl
der hier zur Lösung gestellten Fragen ist nicht klein, und die Namen der Männer,
die sich ihrer Beantwortung mit einer bewundernswerten Gründlichkeit unterzogen
haben, sind von gutem Klange. Die Schwierigkeiten indessen, die der Verbreitung
der Kunst auf dem Lande entgegenstehen, sind so mannigfaltig und groß, daß es
72) 0.Fiedler, Bedeutung und Verwertung des Wandschmuckes
in der Schule. Die deutsche Schule. Jg. IX. S. 546. — M. Spanier, Etwas
über Bi1dbetrachtungen. Kind und Kunst. Jg. I. S. 277—281.
73) Pädagogische Rundschau. Jg. 1905. Heft II. S. 48—55. — K. Scheinecker,
Der Freihandzeichenunterricht in derBürgerschu1e. Zeitschrift für
Lehrmittelwesen und pädag. Literatur. Jg. 1905. Nr. 1. S. 26—29. — R. Mielke,
Führt unsere Kunsterziehung zur Kunstempfindung? Zeitschr. für
lateinl. höh. Sch. Jg. XVI. Heft X.
74) E. Vetterlein, Heimatkunst. Leipzig, Richter. 1,20 Mk.
75) H. Grevenstreit, Kunst auf dem Lande. Daheim. Jg. XXXXI.
S. 12—17. — E. W. Bredt, Aphorismen zur Bauernkunst. Die Kunst.
Jg. VL Heft IX. S. 366—370.
Friese, Jahrbuch III. 42
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würde überschätzt, wollte man alles Heil für die künstlerische Erziehung der Jugend
allein von ihm erwarten. Vielerlei Umstände müssen hier einheitlich Zusammen-
wirken, um die Grundmauern zu legen, auf denen das spätere Leben die Ausbildung
weiter vollzieht. Die Vorführung und Besprechung guter Bildwerke liefert zu
diesem Ausbau gewichtige Bausteine. Nach welchen Gesichtspunkten derartige
Bilderbesprechungen erfolgen können, zeigt P.Quensel in der Broschüre „Meister-
bilder und Schule (München, Callwey. 0,75 Mk.) und Hans Rosenhagen be-
spricht in der Gartenlaube Jg. 1905, S. 275—279 in volkstümlicher Weise das Thema
„Wie sollen wir Bilder betrachten?", wobei er das mit Bewußtsein voll-
zogene Sehen (sachliches und künstlerisches, verstandesgemäßes Sehen und Emp-
finden) in allen seinen Phasen erläutert. Verschiedene Autoren verlangen indessen
ein tieferes Eingehen auf die Kunstwerke, als es das bloße Anschauen zu bewirken
vermag72). So beklagt Dr. Leisching in dem Vortrage „Kunst und Schule73),
daß einzelne Führer in der heutigen Bewegung zur Förderung der Kunst in der
Schule den Wert einer sachgemäßen historischen Grundlage für die Einschätzung
der Kunstwerke bestreiten. Er ist der Meinung, ohne geschichtliche Kenntnis kann
auch der gesundeste Menschenverstand, das lebhafteste Gefühl, die beste Anlage
nie ganz eindringen in den Geist und die Absichten bedeutender Kunstschöpfungen.
Er tritt deshalb für die Kunstgeschichte als Lehrfach an den Lehrerseminarien ein.
Die sächsischen Lehrerbildungsanstalten fordern eine Übersicht über die geschicht-
liche Entwicklung der Kunst. P. Gehler trägt diesem Verlangen Rechnung durch
sein Werkchen „Hauptmerkmale der architektonischen Baustile. Merk-
stoff für Schüler höherer Lehranstalten" (Leipzig, Köhler). M. Spanier
stellt in der Sammlung „Zur Kunst. Ausgewählte Stücke moderner Prosa
zur Kunstbetrachtung und zum Kunstgenuß" (Leipzig, Teubner.) kurze Ab-
handlungen von Avenarius, Seidlitz, Springer, Hirth, Lichtwark, Furtwängler, Urlichs,
Bürckner, Bayersdorfer, Wölfflin, Justi, Schulze-Naumburg, Gurlitt, Brinckmann,
Floercke, Hans Thoma zusammen, um durch diese Arbeiten Stimmung für die
Kunst zu machen.
Die Bewegung, die Kunst dem Volke nahe zu bringen, prägte die Schlager
„Volkskunst" und „Heimatkunst"74), Begriffe, die vielfach falsch gedeutet,
vielfach miteinander identifiziert worden sind. Was unter Volkskunst zu verstehen
ist, erklärt Karl Dietrich in der Abhandlung „Volkskunst und Volksdichtung
als soziologische Faktoren", wobei er R. Mielkes Ausführungen über Volks-
kunst entgegentritt.
Der Verein Leipziger Zeichenlehrer gab im Jahre 1905 ein interessantes
Schriftchen „Wie wir unsere Heimat sehen. Anregungen zur intimen
Betrachtung der LeipzigerHeimat" (Leipzig, Scheffer.) heraus. Das Büchlein
hat vorbildlich gewirkt, und so ließen G. Neumann und O. Schwindrazheim
unter demselben Titel zwei weitere Heftchen in demselben Verlage erscheinen,
von denen das des erstgenannten Verfassers Thüringens Perle, Rudolstadt, das
des zweiten Autors die alte Hansastadt Hamburg schildert.
Ein wertvoller Beitrag zu dem Thema „Kunst auf dem Lande" ist
Sohnreys Buch gleichen Titels (Bielefeld, Velhagen und Klasing)73). Die Zahl
der hier zur Lösung gestellten Fragen ist nicht klein, und die Namen der Männer,
die sich ihrer Beantwortung mit einer bewundernswerten Gründlichkeit unterzogen
haben, sind von gutem Klange. Die Schwierigkeiten indessen, die der Verbreitung
der Kunst auf dem Lande entgegenstehen, sind so mannigfaltig und groß, daß es
72) 0.Fiedler, Bedeutung und Verwertung des Wandschmuckes
in der Schule. Die deutsche Schule. Jg. IX. S. 546. — M. Spanier, Etwas
über Bi1dbetrachtungen. Kind und Kunst. Jg. I. S. 277—281.
73) Pädagogische Rundschau. Jg. 1905. Heft II. S. 48—55. — K. Scheinecker,
Der Freihandzeichenunterricht in derBürgerschu1e. Zeitschrift für
Lehrmittelwesen und pädag. Literatur. Jg. 1905. Nr. 1. S. 26—29. — R. Mielke,
Führt unsere Kunsterziehung zur Kunstempfindung? Zeitschr. für
lateinl. höh. Sch. Jg. XVI. Heft X.
74) E. Vetterlein, Heimatkunst. Leipzig, Richter. 1,20 Mk.
75) H. Grevenstreit, Kunst auf dem Lande. Daheim. Jg. XXXXI.
S. 12—17. — E. W. Bredt, Aphorismen zur Bauernkunst. Die Kunst.
Jg. VL Heft IX. S. 366—370.
Friese, Jahrbuch III. 42