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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 22.1906-1907

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Gensel, Walther: Die klassische Bildniskunst in England
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https://doi.org/10.11588/diglit.12155#0177

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DIE KLASSISCHE BILDNISKUNST IN ENGLAND

Von Walther Gensel

Die englische Malerei ist die jüngste unter
ihren großen Schwestern. Die klassische
Blütezeit der italienischen und deutschen fiel
ins 16., die der holländischen und spanischen
ins 17. Jahrhundert, die der französischen
dauerte von der Zeit des großen Ludwig bis
zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Erst als
drüben überm Kanal der Verfall eingetreten
war, erhob die Malerei in England wahrhaft
ihr Haupt. So steht sie auf der Grenzscheide
der älteren und der modernen Kunst. Aber
stärker als das, worauf sie vordeutet, kommt
doch das in ihr zum Ausdruck, worin sie
wurzelt. Und dies ist die Kunst van Dycks
auf der einen, die des Rokoko auf der andern
Seite. Nur anfangs aus Deutschland, dann
aber aus den beiden nächstgelegenen Reichen,
Frankreich und den Niederlanden, hatten je
die englischen Könige jahrhundertelang fast
ihren ganzen Bedarf an bildender Kunst ge-
zogen. Aber die Künstler, die nach dem Insel-
reiche kamen, empfingen doch auch umge-
kehrt den Einfluß der englischen Gesellschaft.
Man assimiliert sich nirgends so schnell wie
dort. Der van Dyck der letzten Periode ist
ein anderer als der der früheren, es ist ein
englischer van Dyck. Und so brauchten auch
die späteren Engländer, als sie sich unter
seinen Schutz begaben, ihr Volkstum nicht
aufzugeben. Reynolds kopierte ihn, wo er
konnte, und zeigt auf Schritt und Tritt seinen

Einfluß, Gainsborough steckte seine Figuren
zum Teil in van Dycksche Kostüme, gab
ihnen van Dycksche Allüren und soll noch
auf dem Sterbebette gesagt haben: „Wir
kommen alle in den Himmel und van Dyck
ist mit von der Partie." Trotzdem sind diese
beiden Künstler vollkommene Engländer. Und
ebenso restlos wurde die französische Kunst
verdaut. Nicht nur viele Bilder, sondern auch
viele Künstler gingen von Paris nach London.
Auch Watteau hielt sich kurz vor seinem
Tode hier auf. Gainsborough war der Schüler
Gravelots, des pikanten Illustrators. Aber
so viele Anklänge sich in seiner Technik,
seinen Farben, seinen Hintergründen an das
Rokoko finden, ganz selten nur könnte man
auf den Gedanken kommen, daß er in Frank-
reich geboren sei.

Freilich muß man bedenken, daß die Stärke
der großen englischen Malerei das Bildnis
ist. An das Bildnis klammert sich die Kunst
auch in den Zeiten des tiefsten Verfalls, hier
findet sie die unmittelbare Berührung mit
der Natur, aus der sie neue Kräfte zieht.
Im Bildnis pflegt die Kunst auch dann national
zu bleiben, wenn sie auf den Gebieten der
Historie, der Mythologie, des religiösen Bildes
ganz vom Auslande abhängig geworden ist.
Ist das Bildnis darum eine Kunst zweiten
Ranges? Reynolds selbst empfand es wohl
als eine Art Beschämung, daß er hauptsäch-

Die Kunst für Alle XXII. t. Jason 1907.

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