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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 34.1918-1919

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Singer, Hans Wolfgang: Ludwig Richter, der Landschaftsmaler
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https://doi.org/10.11588/diglit.13748#0306

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A. L. RICHTER AUSSICHT IN NIZZA (GETUSCHTE GRAPHITZEICHNUNG)

begeisterung, da nicht etwa mit Scheuklappen
durchgerannt. Aber nun wird uns eine Über-
raschung zuteil. Dem nicht nur in kleinen Ver-
hältnissen, sondern auch in einem Landstrich
mit kleinlichem Formenverlauf lebenden Mei-
ster muß doch das ungeheuer Großartige der
Alpenwelt beispiellose Eindrücke vermittelt ha-
ben. Künstler in seiner Lage neigen dazu, das
Große noch zu übertreiben. Es ist das ganz
natürlich, denn nicht nur wird ihre Phantasie
mächtig angeregt, als Menschen sind sie Be-
richterstatter und müssen den Daheimgeblie-
benen durch ihre Werke den Eindruck, der
ihnen so imponiert hat, zu übermitteln suchen,
was sich am ehesten durch die Übertreibung er-
reichen läßt. So halten es auch die meisten:
nicht aber unser Richter. Er nimmt die mäch-
tigsten, erhabensten Motive auf: Kandersteg,
die Blümlisalp, die Jungfrau. Aber er rückt
alles nahe heran, reduziert es gleichsam von
dem ungeheuerlichen auf ein menschliches Maß,
und streift ihm das Großartig-Überwältigende

ab. Es ging ihm gewiß wie mit Italien: er be-
saß nicht das Auge, die Dinge in ihrer Eigenart
zu sehen. So bleiben die Aufgaben, so schön
die Zeichnungen in mancher Hinsicht auch sind,
letzten Endes doch ungelöst und für die Be-
wunderung, den reinen Genuß müssen wir uns
immer wieder auf die Blätter mit den heimi-
schen Motiven zurückziehen.
In unsere Abbildungsreihe haben wir eine Ku-
riosität, ein ganz frühes Blatt aus Nizza aufge-
nommen, das der Meister als siebzehnjähriger
Mensch auf seiner Reise mit dem Fürsten
Narischkin geschaffen hat. Es ist ein nettes
Beispiel der damaligen Modekunst, ganz Kon-
vention, angenehm, etwas lieblich, etwas senti-
mental, vor allem nett und nicht geschmacklos.
Aber das ist gerade die marklose, ohne Fühlung
mit den Naturformen arbeitende Manier ge-
wesen, die der junge Richter mit der Überlie-
ferung in die Hand bekam und gegen deren
Leere er, unterm Einfluß der „Neudeutschen“
Schule, mit aller Macht kämpfte.
Hans W. Singer

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