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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 34.1918-1919

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Friedländer, Max J.: Bedenken gegen moderne Kunstlehren
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https://doi.org/10.11588/diglit.13748#0344

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Schließlich kommt es nicht darauf an, was
der Künstler meint und beabsichtigt, sondern —
was er ist. Eine schaffenskräftige Individualität
mag sich ungestraft mit aufklärender Ästhetik
beschäftigen, so wie ein gesunder Tatenmensch,
ohne Schaden zu nehmen, ein Buch über die
Unfreiheit des Willens lesen mag. Nur darf
man nicht glauben, die prägende Kraft des
Inneren zu gewinnen, indem man um diese
Kraft weiß und sie in Manifesten verherrlicht.
An Kunstverehrung erkennt man den Lieb-
haber, den Künstler aber an Naturverehrung.
Die Heutigen fürchten, scheuen und meiden
die Trivialität des Lebens. Einem van Gogh
war nichts in der Sichtbarkeit gemein, gleich-
gültig, seiner Liebe und der Nachbildung un-
wert. Seine Qual war immer nur, ob er es
auch wiederzugeben vermöchte. Wer die Natur
als banal empfindet, sieht banal, und verurteilt
als Liebhaber und Kritiker, was er erblickt, also
als Künstler erschafft. Die Vision vieler Maler
steht eben nicht auf der Höhe ihrer ge-
bildeten und kunsterfahrenen Ansprüche und
ist ihnen nicht eigenartig, erhaben und poetisch
genug. Was sie sehen ist nicht das, was sie
hervorbringen möchten. Ihr Ideal entstammt
nicht der eigenen Phantasie, sondern den Ein-
drücken fremder Kunst. Sie lieben das Primi-
tive, das einen gesunden Künstler, der unter
dem Sehzwange seiner Zeit steht, ganz und gar
nichts angeht, und lieben Formen, die in weiter
Ferne entstanden, von Negern, Bauern und
Kindern geprägt, hier als Charaktermasken ver-
wendet werden vor allzu glatten Gesichtern.
Sie reden von Persönlichkeit und schließen sich
einer „Richtung“ an, sie sprechen von Aus-
druck und Seele und landen bei formalistischen
Spielereien. Viel wird gepredigt von „Welt-
gefühl“, von „der inneren Form der Dinge“
u. dergl. Schön und gut und mitunter mehr
als Phrase. Nur kann der schaffende Künstler
mit solchem Tiefsinn nichts beginnen. Die
Welt offenbart sich ihm nur in konkreten und
individuellen Dingen und ist ihm nur von einer

Seite zugänglich. Sein Weg ist nicht der Weg
des Musikers, des Dichters oder des Philosophen.
Einige der Jüngsten waren konsequent, in-
dem sie sich völlig von der Natur abkehrten,
sie hinterließen eine schreckende Spur den Ge-
nossen, die sich zur Sichtbarkeit lässig und
überheblich verhalten, die dort mit Geschmacks-
vorteil kosten, wo sie mit Haut und Haaren
vertilgen sollten.
Das Kunstwerk entsteht aus einer Art von
Liebeskampf der gestaltenden Persönlichkeit
mit der Natur. Dieser Streit, in dem die Indi-
vidualität erstarkt, ja, sich erst bildet, beginnt
mit Anklammerung an die Sichtbarkeit. Der
Künstler verzweifelt mitunter über der Unmög-
lichkeit seiner Aufgabe, läßt aber nicht ab und
unterwirft sich die Natur, indem er sich der
Natur unterwirft. Denn jegliche Kunst steckt
in der Natur. Und nur der reißt sie heraus,
der den Glauben nicht verloren hat, daß seine
Kunst nichts anderes wäre als strikte Wieder-
gabe seiner Natur.
Vom Standpunkt des Historikers gibt es viele
Kunstarten, so viele, wie es Künstler gibt, und
gibt es keinen „Naturalismus“, vom Standpunkt
des Künstlers aber gibt es nur eine einzige
Kunstart: eben den „Naturalismus“.
Vielleicht arbeiten die Großen unserer Tage
schon irgendwo, und wir kennen sie nicht, wahr-
scheinlich wird ihre Eigenart hart und fremd-
artig vor uns auftauchen, und wir werden Mühe
haben, zu verstehen, gewiß aber werden sie
die Kraft, ihre Sehweise folgerichtig zu ent-
wickeln und durchzusetzen, aus dem Wahne
schöpfen, die Natur richtig und richtiger als
alle Früheren zu sehen. Vielleicht wird die Ge-
schichte ihnen den Namen „Expressionisten“
lassen, sie selbst aber werden sich nicht auf
das Recht und die Herrlichkeit ihrer Subjek-
tivität berufen, vielmehr die Natur als ihre
Herrscherin verehren, die mit Enthusiasmus
und Genauigkeit nachzubilden die einzige Ver-
pflichtung sein wird, von der sie durchdrun-
gen sind. Max J. Friedländer

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