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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 34.1918-1919

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Singer, Hans Wolfgang: Charles Meryon
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https://doi.org/10.11588/diglit.13748#0394

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CHARLES MERYON DAS MARINE-MINISTERIUM (RADIERUNG)

Leinwand vorgeschritten wird. Aber die Ra-
dierung ist ein Ding, das gewissermaßen unter
der Hand entsteht, von dem die Einzelheiten
erst während der Arbeit selbst dem Künstler
klar werden. Es gibt ja eine Art zu radieren
im Ätzbad selbst, bei der vorher nichts auf der
Platte steht und alles schnell in einem Guß
geschaffen werden muß. So ist es auch das Nor-
male, man möchte denken das einzig Mögliche,
für eine Radierung, daß der Künstler sie immer
gleichmäßig im Ton hält, und die ganze Fläche
als solche in der Arbeit fortschreitet, nicht
stoß- und fleckenweise geschaffen wird. Jenes
Wunderwerk atmosphärischer und luftperspek-
tivischer Meisterschaft aber, Meryons „Apsis
der Notre-Dame“, ist fleckenweise, sozusagen
mosaikmäßig, zusammengefügt worden. Wie
er auf diese Weise die Stimmung hat bezwingen
können, wird ewig rätselhaft erscheinen. Ebenso
steht es um „Le Stryge“ und um „Le pont
au change“. Das geht Hand in Hand mit
Meryons Eigentümlichkeit, beim Zeichnen einer
Figur unten anzufangen. Er meinte, sie stehe
ja auch auf den Füßen, und ebensowenig wie

man von oben nach unten bauen könne, solle
man von oben nach unten zeichnen.
Die auffälligste und weitgehendste Merk-
würdigkeit an Meryon ist natürlich die Wirkung,
die seine zeitweilige Geisteskrankheit auf seine
Kunst ausgeübt hat. Da ist zunächst einiger
ungelenken Verse zu gedenken, die er in
einem selbsterfundenen Dialekt schrieb, halb
phonetische halb kindlichüberschwengliche, ro-
mantische Sprachenaltertümelei. Dann freute
er sich kindisch an radierten Bilderrätseln.
Als Notbehelf bringen unsre schlichteren Witz-
blätter manchmal noch solche Sachen: aber
in der Form von ernsthaft zu nehmenden
Kunstwerken ist damit nur Meryon vor die
Öffentlichkeit getreten.
Ganz kraus sind einige seiner symbolistisch-
mysteriösen Einfälle, z. B. „Le malingre crypto-
game“, „La loi lunaire“ „La loi solaire“ mit
wirren Versen, in denen der geistig Umnachtete
schon garnicht mehr durchblicken lassen konnte,
was für Vorstellungen ihn zur Inangriffnahme
der Arbeiten getrieben haben.
Leider hat Meryon nun auch einige seiner

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