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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 34.1918-1919

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Oldenbourg, Rudolf: Zur Kunstkritik der Tagespresse
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https://doi.org/10.11588/diglit.13748#0421

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hätte. Auch eine Irreführung des Lesers wäre
bei dieser Mehrstimmigkeit der Kritik nicht zu
befürchten: Es kann nur im Interesse der
Öffentlichkeit liegen, wenn allmählich die ge-
sunde Skepsis erwacht, die die Kritik als das
auffaßt, was sie ist, nämlich die Meinung eines
einzelnen, ohne jede axiomatische Gewähr und
Dauer. Nicht eine Uniformierung des Urteils,
ein Überreden zu dieser oder jener Richtung,
ein Erleuchten der Massen mit hohen Kunst-
philosophemen, sondern die Neutralisierung
ihrer angeborenen und anerzogenen Vorurteile
ist die Aufgabe, die die Kritik der Tagespresse
an ihren Lesern zunächst zu vollziehen hat.
Erst hierauf kann die freie Beweglichkeit der
Aufnahme folgen, die zum Urteil in künstle-
rischen Dingen erforderlich ist und mit der es
dann jedem freisteht, die ihm entsprechende
Richtung einzuschlagen.
Der Versuch einer mehrstimmigen Kritik ist
vor einiger Zeit anläßlich der neuen Ausgabe von
Heinrich Manns Werken in der „Zeitschrift für
Bücherfreunde“ gemacht worden (Beiblatt IX,
15g ff.). Gerade bei der literarischen Rezension
aber, die sich ähnlich wie die Musikkritik mit der
Bewertung einer Persönlichkeit befaßt, ist der
Vorteil dieses Verfahrens zum mindesten nicht so
handgreiflich, wie bei der Sichtung der Massen-
produktion, die in unseren großen Kunstaus-
stellungen auf den Markt geworfen wird. Denn
hier kann es sich eigentlich nie um mehr als
die Voraussetzung einer eingehend differenzie-
renden Kritik handeln, nämlich um das Hervor-
holen des Nennenswerten aus der Menge des
Gleichgültigen; und dafür leistet allerdings der
Konsens verschiedener Meinungen bessere Ge-
währ, als das Urteil des einzelnen. Sollte der
Kritiker durch die Einbuße seiner unwider-
sprochenen Alleinherrschaft eine Schwächung
seiner Macht befürchten, so bekundet er damit,
daß er sich ein überzeugendes Urteil überhaupt
nicht zutraut, sondern mehr auf den Glauben
seiner Leser rechnet, als auf ihren Verstand.

Er müßte es sonst nur freudig begrüßen, wenn
er sich mit vollem persönlichen Anteil für seine
Überzeugung einsetzen dürfte und die „objek-
tive Gerechtigkeit“, die, soweit es sich um künst-
lerische Fragen der Gegenwart handelt, in den
Bemühungen des einzelnen doch immer ein
philiströser Schemen bleibt, dem Gegengewicht
seiner Konreferenten überlassen könnte.
Den heutigen Verhältnissen wäre diese Teilung
der Kritik besonders angemessen. Es ist ge-
plant, in der Kunst, d. h. in der Kunstwirtschaft
den sozialen Forderungen dadurch genug zu
tun, daß jedem, der überhanpt nur ein Stück
Leinwand mit Farbe zu bestreichen unternimmt,
von Staats wegen die Möglichkeit der Ausstel-
lung zugesichert wird. Nicht die Übereinstim-
mung künstlerischer Ziele, sondern lediglich die
Gemeinschaft des Handwerks und der Steuer-
entrichtung wird in diesen Ausstellungen die
Künstler und Kunstübenden zusammenführen.
Wir haben also Bilderansammlungen von einem
Umfang und vor allem von einer — gelinde
ausgedrückt — Mannigfaltigkeit des Niveaus
zu erwarten, im Vergleich zu denen unsere
üblichen Glaspalast-Veranstaltungen wahre Eli-
ten bedeuteten. Eine Neugestaltung der Kritik
wird damit notwendig Schritt zu halten haben,
vor allem weil das Urteil des einzelnen noch
weniger als vorher der Fülle des Gebotenen
wird gerecht werden können, ferner aber, weil
die Ausstellenden, in der Tat nicht ohne Fug,
fordern können, daß durch ein mehrstimmiges
Pressereferat eine gewisse ausgleichende Ge-
rechtigkeit geschaffen werde.
Wie weit freilich der Gesichtswinkel sozialer
Gerechtigkeit zu künstlerischer Erkenntnis über-
haupt tauglich sei, ob nicht vielmehr das aristo-
kratische Wesen der Kunst allen Ansprüchen auf
Gleichberechtigung Hohn lache, ist eine Frage,
an die wir gegenwärtig kaum in Gedanken rühren
dürfen: Sie würde uns zu tief in das Elend
unseres geistigen Lebens, soweit es wenigstens
öffentlich in Erscheinung tritt, hineinblicken
lassen. Rudolf Oldenbourg

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