Zur Korrektur der Gattungshierarchie
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Anzumerken ist noch eine für das 18.Jahrhundert charakteristische Widersprüch-
lichkeit. Der Künstler, der hier von der zweiten, realistisch orientierten Richtung als
Beleg für ihre Aussagen angeführt wurde, Jean-Baptiste-Siméon Chardin (1699-
1779), wird sich kaum mit dieser Vereinnahmung einverstanden erklärt haben. Er
akzeptierte die Hierarchie der Gattungen, und es ist bekannt, welche Mühen es ihn
kostete, um seinem nicht sonderlich dazu talentierten Sohn Pierre-Jean die Lauf-
bahn eines Historienmalers zu eröffnen. Dieses Verhalten wäre bei Baillet de Saint
Julien, der selbstbewußt eine realistische Kunst proklamierte, wahrscheinlich auf
Unverständnis gestoßen. Baillet konnte sich jedoch mit seinen Vorstellungen nicht
durchsetzen, und die realistische Position, die um die Jahrhundertmitte recht stark
war, verlor zusehends an Bedeutung. Diese Feststellung ist für die vorliegende Unter-
suchung von Belang, da der massive Angriff, der von dieser Seite auf den Bereich der
expression des passions und dessen zentrale Rolle ausging, damit erst einmal abgefan-
gen war. Die Diskussion um die Gattungshierarchie wurde bald von einer Richtung
dominiert, wie sie auf künstlerischer Ebene Greuze vertrat, und dies nicht nur, weil er
es besonders gut verstand, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Jean-Baptiste Grenze (1725-1805) war im Jahre 1755 als Agréé in die Académie auf-
genommen worden und stellte seitdem mit wachsendem Erfolg in den Salons aus.
Er bemühte sich von Beginn seiner Karriere an, den eng gesteckten Rahmen seiner
Gattung, des Genre, zu überschreiten und verstand sich wohl auch seit der ersten
Hälfte der sechziger Jahre weniger als Genre-, denn als Historienmaler412. So machte
er bereits in seinen frühen Werken zu einzelnen Figuren Anleihen bei der Kunst der
italienischen Renaissance und besonders bei der antiken Plastik. Dabei handelte es
sich um als solche erkennbare >Pathosfiguren<, die zur Aufwertung seiner Werke bei-
tragen sollten413. In diesen Übernahmen zeigt sich ein Reflex seiner Italienreise im
Jahre 1756. Das wesentliche Mittel zur Nobilitierung seiner Kunst war jedoch die
Einbeziehung des Bereiches der expression des passions. Greuze bemühte sich um das
Erfassen psychisch mehrschichtiger Situationen, in denen er seine bürgerlichen
Gestalten präsentierte. Damit kam er einem allgemeinen Interesse an der menschli-
chen Psyche und deren diffizilen Regungen entgegen. Die Wiedergabe der Affekte
diente in den Werken von Greuze nicht lediglich als Agens der Komposition, sie hat-
ten darüber hinaus die wesentliche Aufgabe, den Betrachter emotional zu engagieren
und so den Rezeptionsprozeß zu intensivieren, das heißt den Grad der Betroffenheit
zu vertiefen. Dies war möglich, da die dargestellten Leidenschaften der bürgerlichen
Erlebnis- und vor allem Gefühlswelt entstammten (was nicht bedeutet, daß die häu-
412 Siehe Anita Brookner, Greuze. The Rise and Fall of an Eighteenth-Century Phenomenon Lon-
don 1972, S. 63.
413 Siehe Willibald Sauerländer, Pathosfiguren im Œuvre des Jean-Baptiste Greuze, in: Walter Fried-
laender zum 90. Geburtstag, Berlin 1965, S. 146-150.
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Anzumerken ist noch eine für das 18.Jahrhundert charakteristische Widersprüch-
lichkeit. Der Künstler, der hier von der zweiten, realistisch orientierten Richtung als
Beleg für ihre Aussagen angeführt wurde, Jean-Baptiste-Siméon Chardin (1699-
1779), wird sich kaum mit dieser Vereinnahmung einverstanden erklärt haben. Er
akzeptierte die Hierarchie der Gattungen, und es ist bekannt, welche Mühen es ihn
kostete, um seinem nicht sonderlich dazu talentierten Sohn Pierre-Jean die Lauf-
bahn eines Historienmalers zu eröffnen. Dieses Verhalten wäre bei Baillet de Saint
Julien, der selbstbewußt eine realistische Kunst proklamierte, wahrscheinlich auf
Unverständnis gestoßen. Baillet konnte sich jedoch mit seinen Vorstellungen nicht
durchsetzen, und die realistische Position, die um die Jahrhundertmitte recht stark
war, verlor zusehends an Bedeutung. Diese Feststellung ist für die vorliegende Unter-
suchung von Belang, da der massive Angriff, der von dieser Seite auf den Bereich der
expression des passions und dessen zentrale Rolle ausging, damit erst einmal abgefan-
gen war. Die Diskussion um die Gattungshierarchie wurde bald von einer Richtung
dominiert, wie sie auf künstlerischer Ebene Greuze vertrat, und dies nicht nur, weil er
es besonders gut verstand, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Jean-Baptiste Grenze (1725-1805) war im Jahre 1755 als Agréé in die Académie auf-
genommen worden und stellte seitdem mit wachsendem Erfolg in den Salons aus.
Er bemühte sich von Beginn seiner Karriere an, den eng gesteckten Rahmen seiner
Gattung, des Genre, zu überschreiten und verstand sich wohl auch seit der ersten
Hälfte der sechziger Jahre weniger als Genre-, denn als Historienmaler412. So machte
er bereits in seinen frühen Werken zu einzelnen Figuren Anleihen bei der Kunst der
italienischen Renaissance und besonders bei der antiken Plastik. Dabei handelte es
sich um als solche erkennbare >Pathosfiguren<, die zur Aufwertung seiner Werke bei-
tragen sollten413. In diesen Übernahmen zeigt sich ein Reflex seiner Italienreise im
Jahre 1756. Das wesentliche Mittel zur Nobilitierung seiner Kunst war jedoch die
Einbeziehung des Bereiches der expression des passions. Greuze bemühte sich um das
Erfassen psychisch mehrschichtiger Situationen, in denen er seine bürgerlichen
Gestalten präsentierte. Damit kam er einem allgemeinen Interesse an der menschli-
chen Psyche und deren diffizilen Regungen entgegen. Die Wiedergabe der Affekte
diente in den Werken von Greuze nicht lediglich als Agens der Komposition, sie hat-
ten darüber hinaus die wesentliche Aufgabe, den Betrachter emotional zu engagieren
und so den Rezeptionsprozeß zu intensivieren, das heißt den Grad der Betroffenheit
zu vertiefen. Dies war möglich, da die dargestellten Leidenschaften der bürgerlichen
Erlebnis- und vor allem Gefühlswelt entstammten (was nicht bedeutet, daß die häu-
412 Siehe Anita Brookner, Greuze. The Rise and Fall of an Eighteenth-Century Phenomenon Lon-
don 1972, S. 63.
413 Siehe Willibald Sauerländer, Pathosfiguren im Œuvre des Jean-Baptiste Greuze, in: Walter Fried-
laender zum 90. Geburtstag, Berlin 1965, S. 146-150.