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Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur — 1-2.1927-1929

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Jantzen, Hans: Zur Beurteilung der gotischen Architektur als Raumkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.71659#0022

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ZUR BEURTEILUNG
DER GOTISCHEN ARCHITEKTUR ALS RAUMKUNST
Die kunstgeschichtliche Betrachtung gotischer Architektur steckt in einer Krisis
der „Wesenserkenntnis". Es ist wohl nicht ganz zufällig, daß in den geistesge-
schichtlichen Bemühungen der Kunstgeschichte, soweit sie auf ein vertieftes Ver-
ständnis des Mittelalters gerichtet sind, die Architekturanalyse mehr im Hintergrund
geblieben ist. In früheren Zeiten war das anders. Jetzt scheinen Architektur und
Skulptur ihre Bedeutung als Material für die Erkenntnis des Mittelalters vertauscht
zu haben, wie schon der Titel der entscheidenden Abhandlung Max Dvoraks an-
deuten kann: Idealismus und Materialismus in der gotischen Skulptur und Malerei.
In der Tat stehen alle Fragen der formalen und stilgeschichtlichen Analyse
gotischer Architektur zur Diskussion, und in etwas zugespitzter Ausdrucks-
weise ließe sich sagen: die Kunstgeschichte weiß heute nicht mehr recht, wann
die Gotik in der Architektur anfängt, noch wann sie aufhört oder welche wesent-
lichen Merkmale ihr zukommen. Sehr übersichtlich und klar hat Paul Frankl
diese Situation der Forschung dargelegt in einer geistreich geschriebenen Ab-
handlung, die an einer Stelle steht, an der kein Kunsthistoriker sie sucht: „Mei-
nungen über Herkunft und Wesen der Gotik" im „Kleinen Literaturführer",
Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft von W. Timmling, 1925. In dieser Ab-
handlung steht beinahe alles, was sich zur heutigen Problematik in der kunst-
geschichtlichen Beurteilung gotischer Architektur sagen läßt, und sie berührt
sympathisch vor allem deswegen, weil sie sozusagen die Probleme nach allen
Seiten offen läßt, obwohl, wie man weiß, Frankl selbst eine sehr bestimmte An-
sicht von Wesen und Entstehung der Gotik vertritt.
Der Wandel im Vergleich mit der älteren Betrachtungsart mittelalterlicher
Architektur ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß man sich mit bautech-
nischen Erörterungen allein nicht mehr begnügen will. In der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hat man mangels anderer zur Verfügung stehender Begriffe
die gotische Architektur in der Hauptsache als eine Folge sich entwickelnder
technischer Probleme aufgefaßt und dargestellt, und zweifellos lassen sich die
konstruktiven Aufgaben und Lösungen als eine in sich sinnvolle Entwicklung
begreifen. Aber diese Betrachtung führt doch nur bis zu einem gewissen Punkt.
Sie verzichtet auf alle Erkenntnisse, die über die Festlegung des rein mate-
riellen Bestandes hinausgehen. Die Erklärung der gotischen Architektur rein
vom Konstruktiven her bleibt dem anschaulich Erlebten so wenig adäquat,
daß mit Recht andere Gesichtspunkte in den Vordergrund gerückt sind. Es ist
bekannt, wie Ernst Gall in seinem Buche: „Niederrheinische und normännische
Architektur im Zeitalter der Frühgotik" (1915) einen entscheidenden Vorstoß
gegen jene von der Konstruktion ausgehenden Erklärungen getan hat und zwar
in einem Punkte, der für die bisherige Theorie wesentliche Bedeutung besaß. Er
wies nach, daß es falsch sei, in der technischen Erfindung des Kreuzrippenge-
wölbes den Ausgangspunkt für die Stilbildung der gotischen Kirche zu suchen.

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