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Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur — 1-2.1927-1929

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Frankl, Paul: Synthese: Ein Nachwort
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https://doi.org/10.11588/diglit.71659#0151

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SYNTHESE
Ein Nachwort
„Wenn der Begriff Seinstil uns hindert, die bedeutsamen Erscheinungen - alle -
nach Gebühr zu würdigen, ist er nicht brauchbar." (Kr. Ber. I, 112). Entspre-
chend müßte man denken: wenn die Begriffe Proportion, Zunahme der Schlank-
heit, der Wanddurchbrechung und Gliederung uns hindern, die bedeutsamen
Erscheinungen - alle - nach Gebühr zu würdigen, sind sie nicht brauchbar. Aber
das wäre ein Irrtum genau wie der erste Satz. Denn selbst wenn die ausschließ-
liche Einstellung auf Proportion, Schlankheitszunahme usw. jemand hindert, den
Sein -und Werdenstil nach Gebühr zu würdigen, bliebe doch die Erkenntnis eben
der Proportion, usw. in ihrer Bedeutung stehen; und entsprechend: wenn die
Begriffe Sein- und Werdenstil jemand hindern, Proportion usw. zu beachten,
hätte er doch jenes andere erfaßt. Aber das eine hindert ja gar nicht das andere.
Von Proportion rede ich stets mit Zurückhaltung. Es ist mir zu grob, von der
Kathedrale in Toulouse zu sagen, sie habe dieselbe Proportion wie das Pantheon1),
weil das nur den Querschnitt betrifft und dabei nur das umschriebene Rechteck.
Wesentlich ist mir immer das Verhältnis des Querschnitts des Hohlraums zu den
Wandstärken. Es scheint mir irreführend von Cluny II zu sagen, es sei mit 1 :2,92
schlanker als Paris mit 1:2,7, denn die Notre Dame wirkt durch die Gewölbeform
und alle übrigen mitsprechenden Proportionen entgegen dem Zahlenresultat
schlanker als Cluny. Immerhin diese Zahlenangaben reichen aus, um die im großen
Ganzen bekanntlich zunehmende Schlankheit in mathematischer Form auszu-
drücken, weshalb ich an vielen Stellen im Hdb. die Proportionen ebenso angab.
Aber daß die Zunahme der Schlankheit zur Gotik führt, habe ich freilich nirgends
gesagt, denn das halte ich für eine Verwechslung eines äußerlichen gemeinsamen
Faktors mit dem Wesentlichen.
Gewiß: es gibt Bauten (I), die gedrungen, schwer und ruhend sind und Bau-
ten (II), die schlank, leicht und steigend sind. (S. 112) Aber: die ruhende Propor-
tion - schon als einzelnes Rechteck - ist zeitentrückt, „seiend"; die steigende
oder wachsende „werdend". Wird die ruhende zum Kanon, so entsteht Seinstil
und zwar figuraler Seinstil, wird die steigende oder sinkende zum Kanon, ent-
steht figuraler Werdenstil. Bisher dachte ich, für den figuralen Stil ließe sich der
Gegensatz von I und II mit den Begriffen kristallomorph und vegetabil aus-
drücken, jetzt verdanke ich Kautzsch die neue wertvolle Erkenntnis, daß es auch
schon innerhalb des figuralen Stiles einen Sein- und Werdenstil gibt. Danach ist
mir um so überraschender, daß er in einem Atem sagt, die Gotik sei wachsend
und dennoch kein Werdenstil. Das ist ein Widerspruch. Was gibt es - wenn
diese Wortbildung erlaubt ist - Werdenderes als Wachsendes?
Liebfrauen in Trier ist gotisch ohne Tiefenrichtung, S. Lorenz in Nürnberg
(Lgh.) ist gotisch ohne Wandauflösung. S. Trophime in Arles hat im Mittelschiff
1:3,46 und ist nicht gotisch, obwohl der schlankere gotische Bau Beauvais nur

2) Vgl. Kautzsch. Werdende Gotik usw. Bibl. Warburg, Vortr. 1927, S. 335.

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