letzte unerbittliche Konsequenz von den Ansätzen, die jeder Wissenschaftler an-
erkennt.
Drum zweifle ich nicht, daß die letzte Schiefheit, die im Zuruf: „halte dich an
das Erlebnis" liegt, schwinden muß, nämlich, daß darunter verstanden wird das
Erlebnis unsystematischer Köpfe. Theorie, Wissenschaft, Logik, Erkenntnis,
Systematik, das ist alles auch ein Stück Leben, Systematik muß eben „erlebt" sein.
Der verengte Begriff meint atheoretisches Erleben1). Gegenüber der unmittel-
baren Hingabe an die Dinge, der adäquaten ästhetischen Hingabe an Ästhetisches,
ethischen Hingabe an Ethisches usw. steht das theoretische Erleben, die theoreti-
sierende Hingabe an die Wahrheit, die Bewußtheit der verdeutlichenden „sinn-
leeren Form"; Wärmelehre ist kein Erlebnis von Wärme, aber man muß Wärme
erleben, um zu wissen, wovon da geredet wird, Geschichte hat so unendlich viel
und vielerlei Inhaltlichkeit, daß schon das bloße Nacherleben dessen, was war
und wie es ward, beglückt und ausfüllt; dem nie ersättlichen Tatsachenhunger
freilich ist sie ein Meer, das auszuschöpfen sei. Und wie es unmöglich ist, alle
Wärmegrade zu „erleben" und die Wärmelehre statt dessen etwas völlig anderes
bietet, so eröffnet die Systematik den Einblick in die Struktur der Geschichte.
Möge es Kautzsch beschieden sein, daß ihm in weiteren Jahren kampfesfrohen
Forschens auch diese höchste und reinste Form der Wissenschaft, die Systematik,
auch die der Entwicklungsmannigfaltigkeit, zum großen Erlebnis werde.
Halle a. d. S., Oktober 1927 Paul Frankl
NOCH EINMAL SYSTEMATIK UND GESCHICHTE
Frankls Erwiderung auf meine Kritik würde in allen wesentlichen Stücken
Recht behalten, wenn ich mir seine Grundanschauung, nämlich die Überzeugung
von der Anwendbarkeit der Begriffe Seinstil und Werdenstil auf die Geschichte
der mittelalterlichen Baukunst zu eigen machen könnte. Ich dachte, ich hätte
deutlich genug gesagt, daß ich das nicht kann. Ja, es war doch gerade die eigent-
liche Absicht meiner Besprechung, zu zeigen, daß jene Begriffe und das hinter
ihnen stehende System untauglich seien, die Entwickelung der frühmittelalter-
lichen zur romanischen und der romanischen zur gotischen Baukunst zu deuten,
untauglich, weil sie der Fülle und Eigenart der Erscheinungen auch nicht entfernt
gerecht werden, und weil das „Ziel" der Entwickelung ein anderes ist, als „Wer-
denstil". Das wollte ich dartun. Frankl aber mißt meine Einwendungen an seinen
Begriffen („Schlankheit hat nichts mit Werdenstil zu tun") und belehrt mich über
die Notwendigkeit der Bildung eindeutiger Begriffe und über den Wert der
, Das ist ausführlich, und klarer als ich es vermöchte, von E. Lask dargestellt: Die Logik der
Philosophie und die Kategorienlehre, Tübingen 1921. Sehr nötig wäre auch, daß jeder Heinrich
Rickert, Die Philosophie des Lebens, Tübingen 1922, lese, jeder, der sich von der Modephilo-
sophie hat fangen lassen.
108
erkennt.
Drum zweifle ich nicht, daß die letzte Schiefheit, die im Zuruf: „halte dich an
das Erlebnis" liegt, schwinden muß, nämlich, daß darunter verstanden wird das
Erlebnis unsystematischer Köpfe. Theorie, Wissenschaft, Logik, Erkenntnis,
Systematik, das ist alles auch ein Stück Leben, Systematik muß eben „erlebt" sein.
Der verengte Begriff meint atheoretisches Erleben1). Gegenüber der unmittel-
baren Hingabe an die Dinge, der adäquaten ästhetischen Hingabe an Ästhetisches,
ethischen Hingabe an Ethisches usw. steht das theoretische Erleben, die theoreti-
sierende Hingabe an die Wahrheit, die Bewußtheit der verdeutlichenden „sinn-
leeren Form"; Wärmelehre ist kein Erlebnis von Wärme, aber man muß Wärme
erleben, um zu wissen, wovon da geredet wird, Geschichte hat so unendlich viel
und vielerlei Inhaltlichkeit, daß schon das bloße Nacherleben dessen, was war
und wie es ward, beglückt und ausfüllt; dem nie ersättlichen Tatsachenhunger
freilich ist sie ein Meer, das auszuschöpfen sei. Und wie es unmöglich ist, alle
Wärmegrade zu „erleben" und die Wärmelehre statt dessen etwas völlig anderes
bietet, so eröffnet die Systematik den Einblick in die Struktur der Geschichte.
Möge es Kautzsch beschieden sein, daß ihm in weiteren Jahren kampfesfrohen
Forschens auch diese höchste und reinste Form der Wissenschaft, die Systematik,
auch die der Entwicklungsmannigfaltigkeit, zum großen Erlebnis werde.
Halle a. d. S., Oktober 1927 Paul Frankl
NOCH EINMAL SYSTEMATIK UND GESCHICHTE
Frankls Erwiderung auf meine Kritik würde in allen wesentlichen Stücken
Recht behalten, wenn ich mir seine Grundanschauung, nämlich die Überzeugung
von der Anwendbarkeit der Begriffe Seinstil und Werdenstil auf die Geschichte
der mittelalterlichen Baukunst zu eigen machen könnte. Ich dachte, ich hätte
deutlich genug gesagt, daß ich das nicht kann. Ja, es war doch gerade die eigent-
liche Absicht meiner Besprechung, zu zeigen, daß jene Begriffe und das hinter
ihnen stehende System untauglich seien, die Entwickelung der frühmittelalter-
lichen zur romanischen und der romanischen zur gotischen Baukunst zu deuten,
untauglich, weil sie der Fülle und Eigenart der Erscheinungen auch nicht entfernt
gerecht werden, und weil das „Ziel" der Entwickelung ein anderes ist, als „Wer-
denstil". Das wollte ich dartun. Frankl aber mißt meine Einwendungen an seinen
Begriffen („Schlankheit hat nichts mit Werdenstil zu tun") und belehrt mich über
die Notwendigkeit der Bildung eindeutiger Begriffe und über den Wert der
, Das ist ausführlich, und klarer als ich es vermöchte, von E. Lask dargestellt: Die Logik der
Philosophie und die Kategorienlehre, Tübingen 1921. Sehr nötig wäre auch, daß jeder Heinrich
Rickert, Die Philosophie des Lebens, Tübingen 1922, lese, jeder, der sich von der Modephilo-
sophie hat fangen lassen.
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