BERTHOLD HAENDCKE: Der Französisch-Deutsch-Niederländische
Einfluss auf die italienische Kunst von etwa 1200 bis etwa 1650. Eine
entwicklungsgeschichtliche Studie (Straßburg, Heitz, 1925).
Schon der Titel dieses Buches ist bedenklich. Darf das, was der Titel sagt,
ein Problem für sich sein? Kann man in der Kunstgeschichte der großen euro-
päischen Völker überhaupt Einfluß in dem Sinne auffassen, daß das geistige
Wesen des einen Volkes das des anderen sich untertan macht? Sind nicht viel-
mehr die sogenannten Einflüsse bloß Manifestationen paralleler Entwicklungen
und beruhen auf gegenseitigem Geben und Nehmen? Durch Aufnahmen aus
fremder Kunst verstärkt man doch nur die eigene Grundtendenz.
Die europäische Kunst ist bis etwa 1600 in überaus starkem Maße inter-
national, ihre Entwicklung verläuft in den verschiedenen Ländern als Aus-
druck einer gemeinsamen christlichen Gesittung sehr parallel. Daß die auslän-
dische Parallelerscheinung desselben Stils immer anregend wirken mußte, ist
selbstverständlich und schließt natürlich nicht aus, daß ein bestimmtes Land für
einen bestimmten Stil stärkere innere Möglichkeiten hat, daß sich dieser Stil hier
konsequenter ausleben kann als in anderen Ländern. Wenn auch in diesem Fall
vielleicht das Geben stärker ist als das Nehmen, so handelt es sich trotzdem
auch hier um kein einseitiges Verhältnis, sondern es bildet sich dann in dem
mehr empfangenden Lande eine eigene, den Eigenheiten jenes Landes gemäße
Schattierung des betreffenden Stiles aus.
Erst nachdem wir die internationale Gesamtentwicklung, das den verschie-
denen Ländern Gemeinsame gewissenhaft festgestellt haben - und dies schließt
wiederum als Voraussetzung die genaue Kenntnis der Kunstentwicklung jedes
einzelnen Landes in sich - können die nationalen Eigenheiten wirklich klar her-
vortreten. Es ist dies der einzige Weg zur Feststellung der nationalen Eigen-
werte eines bestimmten Stils in einem bestimmten Lande. Jeder andere Weg
führt zu willkürlichen Interpretationen, d. h. zu Über- oder Unterschätzungen.
Haendcke beschreitet nicht den richtigen und gegebenen Weg, die internatio-
nalen Parallelen der Stilentwicklung und die daraus resultierenden Beziehungen
der verschiedenen Kunstgebiete klarzulegen, denn dadurch würde ja seine Ein-
flußtheorie ins Nichts versinken. Worauf es ihm ankommt, ist ein Angriff auf
die Selbständigkeit der italienischen Kunst überhaupt. Seiner Auffassung nach
brauchte Italien den fremden Einfluß von Grund auf, und vieles vom Wichtig-
sten, das es hervorgebracht hat, hätte es ohne diese Hilfe gar nicht schaffen
können. Um dies zu beweisen, durchläuft H. die ganze italienische Kunst von
beinahe fünf Jahrhunderten, Architektur, Plastik, vor allem Malerei und führt
an oder erwähnt jeden Satz aus der gesamten ihm bekannten kunsthistorischen
Literatur - mit Vorliebe aus der längst veralteten (die neueren Arbeiten sind ihm
in zahlreichen Fällen unbekannt) - jede richtige oder unrichtige Hypothese, jede
wichtige oder unwichtige Tatsache, die nach seiner Ansicht auf nordischen Ein-
fluß oder - was ihm gleich dünkt - auf nordische Beziehungen schließen läßt.
Überdies werden sämtliche deutsche, französische, niederländische Maler, Stein-
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Einfluss auf die italienische Kunst von etwa 1200 bis etwa 1650. Eine
entwicklungsgeschichtliche Studie (Straßburg, Heitz, 1925).
Schon der Titel dieses Buches ist bedenklich. Darf das, was der Titel sagt,
ein Problem für sich sein? Kann man in der Kunstgeschichte der großen euro-
päischen Völker überhaupt Einfluß in dem Sinne auffassen, daß das geistige
Wesen des einen Volkes das des anderen sich untertan macht? Sind nicht viel-
mehr die sogenannten Einflüsse bloß Manifestationen paralleler Entwicklungen
und beruhen auf gegenseitigem Geben und Nehmen? Durch Aufnahmen aus
fremder Kunst verstärkt man doch nur die eigene Grundtendenz.
Die europäische Kunst ist bis etwa 1600 in überaus starkem Maße inter-
national, ihre Entwicklung verläuft in den verschiedenen Ländern als Aus-
druck einer gemeinsamen christlichen Gesittung sehr parallel. Daß die auslän-
dische Parallelerscheinung desselben Stils immer anregend wirken mußte, ist
selbstverständlich und schließt natürlich nicht aus, daß ein bestimmtes Land für
einen bestimmten Stil stärkere innere Möglichkeiten hat, daß sich dieser Stil hier
konsequenter ausleben kann als in anderen Ländern. Wenn auch in diesem Fall
vielleicht das Geben stärker ist als das Nehmen, so handelt es sich trotzdem
auch hier um kein einseitiges Verhältnis, sondern es bildet sich dann in dem
mehr empfangenden Lande eine eigene, den Eigenheiten jenes Landes gemäße
Schattierung des betreffenden Stiles aus.
Erst nachdem wir die internationale Gesamtentwicklung, das den verschie-
denen Ländern Gemeinsame gewissenhaft festgestellt haben - und dies schließt
wiederum als Voraussetzung die genaue Kenntnis der Kunstentwicklung jedes
einzelnen Landes in sich - können die nationalen Eigenheiten wirklich klar her-
vortreten. Es ist dies der einzige Weg zur Feststellung der nationalen Eigen-
werte eines bestimmten Stils in einem bestimmten Lande. Jeder andere Weg
führt zu willkürlichen Interpretationen, d. h. zu Über- oder Unterschätzungen.
Haendcke beschreitet nicht den richtigen und gegebenen Weg, die internatio-
nalen Parallelen der Stilentwicklung und die daraus resultierenden Beziehungen
der verschiedenen Kunstgebiete klarzulegen, denn dadurch würde ja seine Ein-
flußtheorie ins Nichts versinken. Worauf es ihm ankommt, ist ein Angriff auf
die Selbständigkeit der italienischen Kunst überhaupt. Seiner Auffassung nach
brauchte Italien den fremden Einfluß von Grund auf, und vieles vom Wichtig-
sten, das es hervorgebracht hat, hätte es ohne diese Hilfe gar nicht schaffen
können. Um dies zu beweisen, durchläuft H. die ganze italienische Kunst von
beinahe fünf Jahrhunderten, Architektur, Plastik, vor allem Malerei und führt
an oder erwähnt jeden Satz aus der gesamten ihm bekannten kunsthistorischen
Literatur - mit Vorliebe aus der längst veralteten (die neueren Arbeiten sind ihm
in zahlreichen Fällen unbekannt) - jede richtige oder unrichtige Hypothese, jede
wichtige oder unwichtige Tatsache, die nach seiner Ansicht auf nordischen Ein-
fluß oder - was ihm gleich dünkt - auf nordische Beziehungen schließen läßt.
Überdies werden sämtliche deutsche, französische, niederländische Maler, Stein-
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