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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1927)
DOI Artikel:
Popp, Joseph: Von der Macht der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0019

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Sonne, zu Sonnen werden; nur dieses eine Gebilde kann „Sonnenblume"
sein und heißen. Ein solches Erleben führl zu einer Wesensschau und Wesens-
gestalkung, mik der sich die typische Gestaltung nicht messen kann. — Was
aber hat derartiges mit irgendwelcher Schönheit zu tun? Es ist viel mehr, als
diese je bieten kann: Deutung des Seins, der Welt, selbst der Überwelt. Diese
Vermiktlung tiesster Geheimnisse und ihrer Ahnung auf dem Wege anschau-
licher Gestaltung ist allergroßarkigste, machtvollste Wirkung der Kunst, das
besondere Gebiet ihrer größten und begnadetesten Meister, die uns dadurch zu-
gleich in ihre Regionen sühren, nicht nur das Gedankliche oder Willeusmä-
ßige oder Gcfühlhaste, auch unsere Ginne packend — alles zugleich und eins
durch das andere steigernd. 2lus Michelangelos Schöpfungsbildern ersteht uns
eine überwältigende Vorstellung von Gott als Schöpser und Vater. Wir
erlcben, LroH der menschlichen Erscheinungsweise, aus der Größe ihrer For-
mung über alles Menschliche hinausgehende Kräste und Spanmmgen, aus
denen wie selbstverständlich vor unseren Augen Welten erstehen. Ahnlich ent-
hüllt sich in den Sibyllen und Propheken das geheimuisvoll surchtbare Erleb-
nis des Seherhastcn als Hcllsichtigkeit, düsteres Brüten, loderndes Hinge-
rissensein, beglücktes Verkünden, erstauntes Aushorchen — alle Skusen des
sich Ergebens und Weitergebens durchlaufend. Wie Lut sich die Ahnung einer
Weltkatastrophe in Rubens' „Höllensturz" vor unseren enkseHten Sinnen aus;
alle Schranken und Hindernisse scheineu sür diese prasselnd herniederstürzenden
Menschenmassen und ihr rasendes Tempo geschwunden; es ist, als ob sie, durch
die in Feuer ausgelöste Welt hindurch, nach unendlichen Abgründen jagken —
verzweiselt in ihrem haltloscn und unaushaltsamen llntergang. In solchen
Werkeu wird der Mensch zum Schöpfer größten Stils, denn nichks in irgend-
ciner Wirklichkeit kann sür dergleichen Borbild und Mittel sein: schon die
Stellungen cinzelner Verworfener stammcn aus dem Phankasiereich des Künst-
lers, um wieviel mehr ihre Gruppierung und Massenverankerung, deren Be-
wegung und Bewegungsgewalt! — Denken wir als Seikenstück an Dantes
Himmel und Hölle, an Erlebnisse aus der Tonwelk eines Bach, Mozart,
Beethoven. Wie erhebt sich hier die Kunst über alles, was man „schön" nennt;
es ist mehr als ein derartiges Erlebnis; obwohl sinnenhast sich mitteilend,
dringt es in die Liessten Schichten unserer Seele.

Darüber hinaus bringt uns das Werk vom Künstler her mit dem Menschlichen
verschiedenster Art in Berührung. Jst es köstlich, von Mensch zu Mensch
sich zu verstehen, Eigenes im anderen ausleuchten, erklingen zu fühlen, sich in
Gemeinschask mit anderen zu wissen — und damit weniger preisgegeben dem
Chaos der Welt —, wie begcgnet uns das alles in der Kunst gesteigert, über
die Lebenden hinaus, hinaus bis in die Ansänge der Menschheit und empor zu
ihren höchsten Höhcn! Kunst ist, mehr als andere geistige Tat,volle Teilnahme
des Menschlichen, Urbedürfnis solcher Art; darum lockt die Kunst irgendwie
jeden, wenn er ihre Werke auch nicht voll bewältigt: „Die Mcnschen sind
der Kunst mehr gewachsen als der Wissenschaft, weil jene zur großen Hälfte
ihuen selbst, diese der Welt angehört" (Goethe).

Indem die Kunst in den einzelnen Künstcn sich vielgestaltig entsaltet, gleich
dem weißen Sonnenlicht, das im Prisma vielsarbig auslcuchket, schasst sie
inncrhalb ihres Reiches neue Wirkungen des Geistes, der Stimmung und
 
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