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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1927)
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Alverdes, Paul: Rainer Maria Rilke
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0025

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Mgur dieser und der vergangenen oder der andern WelL, die er nichL zum Gegen-
stande eines GedichLes häLLe machen wollen oder können; immer höchst eigen-
Lümlich, immer kühn, ja verblüffend, aber häufig eben doch mehr durch die
KühnheiL, mehr durch den Blickwinkel der Anfchauung als durch die An-
fchauung selbft wirkend. Herrlich ift — um einige Beispiele anzuziehen —,
und ganz dichLerifch eLwa der rasende Ausbruch von LeidenfchafL in der „Mäd-
chenklage" aus den Nruen GedichLcn geftalteL:

PlöHlich bin ich wie verftoßen
und zu einem Übergroßen
wird mir diese EinsamkeiL,
wenn auf meiner Brüfte Hügeln
ftehend mein Gefühl nach Flügeln
oder einem Ende fchreit.

Wie das SLufen der LeidenfchafL hinandringL, wie etwa die fünfLe Zeile dieser
Strophe, „ftehend mein Gefühl..." fchon hoch über die vorhergehende hinaus-
gefchwungen ift und wie, als ein zorniger junger GoLL „auf der Brüfte Hügeln"
sichkbarlich sich erhebend das Gefühl nach Flügeln oder einem Ende fchreit
— solcher unvergeßlichen, unvergleichlichen Verse sei hier erinnernd gedacht.
llnd noch, für vicle andere, jencr wunderbaren Schlußwendung aus der „Land-
fchafL" des gleichen Buches:

aber plötzlich ift vom Mond ein Schein
durchgegliLLen, lichL, als häLLe ein
Erzengel irgendwo sein SchwerL gezogen.

Wir ziehen noch ein driLtes GedichL an, das im Ganzen fchon eigentlich arLiftifch
zu uennen wäre, den „Ball" aus dem gleichen Buche. Diene der Anfang als
ein Beispiel für das unvergleichliche Vermögen Rilkes, ein lebloses Ding so
zu befchreiben und zu umfchreiben, daß es nun als Lief in eine KeLLe von leben-
digen Ilrsachen und Wirkungen verftrickk erfchcinL, daß es plötzlich handelL und
unLerläßL, wo vorher keiner etwas gesehen oder geahnt haben mochte, als
eben ein unbelebtes Spielzeug wie andere auch. Es heißt da von dem Ball:

Du Nunder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen oben forkgibt, sorglos wie
sein Eigenes...

Wenn wir nun die „Klage um FonaLhan" anziehen, so sind wir bei einem
jener Gedichte angelangL, deren gedankliche und sprachliche GeftalL eben doch
mehr gesuchL als gefunden heißen muß. Befchränken wir uns auf das eine
Beispiel. David klagL um IonaLhan und sagL am Ende:

denn da und da, an meinen fcheuften Orken,
bift du mir ausgerissen wie das Haar,
das in den Achselhöhlen wächft und dorten
wo ich cin Spiel für Frauen war,
bevor du meine dorL verfitzken Sinne
auffträhnteft, wie man cinen Knaul enkflicht;
da sah ich auf und wurde deiner inne: —
jetzt aber gehß du mir aus dem Gesicht.

Es mögen solche und ähnliche Gebilde gewesen sein, die dem Dichter den Vor-
wurf der Dekadenz, der Blasiertheit, des snobiftifchen MrLuosenLums einge-
 
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