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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

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Heft 7 (Aprilheft 1927)
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Tribüne
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0062

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pflug erwiesen sich als unzureichende Wassen. Die gesolkerte indi'sche Seele ertrug
die Spannungen der Non-Violenz nicht mehr, gab slch aus oder ließ sich zu Gewalt-
tätigkelten hinreißen. Das Programm der Non-Kooperakion, des Nlcht-zusammen-
Arbeitens mit den englischen Behörden, mußte ersetzt werden durch die Methode
parlamentarischer Oppositlon nach westlichem Muster. Es war das Sichbeugen
des Orients vor dem überlegenen Okzident. Vor zwei Jahren war in England
ein Buch mit dem Titel „Berlorene Herrschaft" erschienen, daö man keinem Ge-
ringeren zugeschrieben hat als Lord Curzon selber. Jn zwei Jahren ist die
Herrschast wiedergewonnen worden.

An einem besonderen Beispiel zeigt sich die Verschiedenheit von orientalischer und
europäischer Methode am deutlichsten, ja dieseS Beispiel gewinnt eine erhöhte sym-
bolische Bedeutung sür diese Verschiedenheit. Es ist die Stellung deS Jnders zu
seinem wichtigsten Haustier, dem Rind. „Der Schutz der Kuh" ist einer der wichtigsten
Glaubensartikel des Hinduismus. Die Kuh, dieses stille, selbstlose, nützliche Geschöps,
das in seiner WesenSruhe und Unbewegtheit das Leben des Jnders sichert und
seinen einzigen Reichtum als Ackerti'er, Milchgeber und Düngerproduzent bildek,
ist ihm heilig und unverletzlich. Jn der Kuh verehrt er die Ouelle und Unversehrt-
heit des LebenS selber. Die Kuh schützt ihn, und er sie. Jn diesem „Schutz der
Kuh" ersüllt sich auch sein Alltag mit religiöser Weihe, und man kann sich vor-
stellen, welche sittlichen und geistigen Kräste ein Volk in diesem KulkuS seines wich-
tigsten HauStiereS auszuspeichern vermag. Aber im Sinne westlicher, rationeller
Methoden ergibt sich die Tatsache, daß insolge dieses Kultus die Viehwirtschast
JndienS durch 2/j Millionen überalterter und gänzlich unbrauchbarer Rinder be-
lastet ist. Auch der „Schutz der Kuh" muß nunmehr gegen die europäische Wirt-
schastsmethode deS rationellen NutzenS auSgewechselt werden, und auch hier sinkt
eineö der großen Lebensideale des Hinduismus dahin.

Mahatma Gandhi silmt. Die alten magi'schen Kulturen des Orients brechen vor
der europäischen Zivilisation, vor ihren Giften, vor Flitter und Kintopp zusammen.
Das heilige BerhältniS zur Erde und ihren Geschöpsen wird ersetzt, zwangslänsig,
sast automatisch ersetzt durch den Geist deS NutzenS und des Gewinns. Diese Ent-
wicklung scheint unerbittlich rings um den ganzen Erdball zu wandern. Wie eine
zweite Austreibung aus dem Paradiese ist es. Die ehrwürdigen Religionen des
Orients sind in ihrem Kern getrossen. Technik und Jndustrie werden diesen Kern
erbarmungslos verschütten. Der Orient wird sich dem Maschinenzeitalter beugen, sich
die europäischen Methoden aneignen, weil seine eigenen sich als unzureichend bei
der Allseinandersetzung mik dem Westen erwiesen haben. Kintopp, rationelle AnS-
nutzung deS BodenS, strasse Verwaltung, unbeugsamer Eigennutz werden Fort-
schritt und Gewinn. Der Orient legt das Rüstzeug Europas an. Bald wird er in
unsern Wassen gegen uns stehen und die Tradition Schingiskhans gegen uns aus-
nehmen. Jmmer sester wird der religiöse Kern der Kulturen verschlossen. So viel
Fremdes und StarreS wird sich darüber lagern, daß dieser Kern nicht mehr
die llnmiktelbare Möglichkeit des Keimens und Sprießens besiht. Vielleicht wird
er sür eine spätere Zukunst aufgehoben bleiben.

Wohin soll diese allgemeine Zivilisierung sühren? Werden der Menschheit alle
Götter sterben? Aber vielleicht, wenn unsere europäischen Scheinwerte den ganzen
Erdball umspannen, vielleicht haben wir dann erst den ersten notwendigen Schritt
zurückgelegt. Bielleicht ist die Erde noch sehr jung und sehr am Anfang.

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