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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

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Heft 9 (Juniheft 1927)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0234

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ganzen Umfang des Trostes und der re-
ligiösen Belebung zu begreifen, der von
WittlgS Schrift „Die Erlösten" (wi'e
„Bergkristall", „Das Schicksal des Wen-
zel Böhm", „Wiedergeburt", „Aus der
schönen Grafschaft" ln Frankes Buchh.,
Habelschwerdt erschienen; das „Leben
Jesu" dagegen jetzt bel Leopold Klotz,
Gotha) ausglng. Hier waren Glauben,
Gesetz nnd Gnade im Leben des Christen
an den rechten Ort zurückgerückt. Daß
nach kathollscher Lehre die Gnade des Er-
löstfems als objektive Tatsache fur jeden
einzelnen feststeht und daß vor dieser Tat-
sache der fittliche Unterschied von Gut und
Böse verschwindet, daß die Werke von
Gott aus gesehen neuttal sind und auch
das „Böse" nur unker der Mitwirkung
Gottes geschehen könne, daß die Gnade
nicht durch sittliche Leistungen verdient
oder durch einen unmoralischen Lebens-
wandel abgewiesen werden kann, daß der
vollkommene Christ nicht der sittlich voll-
kommene, sondern der der vollen Wirk-
lichkeit des Lebens gläubig geöffnete
Mensch ist: die ernente Betonung dleses
wesentlich christlichen GlaubenSgnts wirkte
auf breite Massen kirchentreuer Menschen
wie eine neue Offenbarung.

Wittigs Theologie lst von PauluS und
von den Vätern her bis zu Augustlnus
bestimmt. Als Fachvertreter der Patro-
logie hat er sich das theologische Rüst-
zeug erworben, mit dem er auf die bren-
nenden Fragen religiöser Wirklichkeit des
zwanzigsten ffahrhunderts antworten
konnte. Man hat ihm vorgeworfen, daß
er Dinge, die in jedem vernünftigen theo-
logischen Lehrbuch zu finden und in ihrer
scholastischen Formulierung längst in die
allgemeine Katechese übergegangen seien,
wie eme unerhört neue heilsgeschichtliche
Erkenntnis und dazu in ei'nseitiger, über-
spitzter Darstellung an die Gläubigen
herantrage. Und mau hat seine Theolo-
gie als eine ertteme Form der thomisti-
schen Gnadenlehre auf die fachtheologi-
fche Auseinandersetzung zwischen Thomi-
sten und Molinisten einzuschränken ver-
sucht.

Witti'g konnte darauf antworten, daß es
ihm nicht aufs Fach, sondern aufs Leben
ankommt. Was hilft das Wissen um die
Entwi'cklung der Gnaden- und Rechtferti-
gungslehre von Paulus und den ältesten
Dätern über Augustin bis zu Thomas,
wenn die kirchliche Praris der Zeit die-
ses Wissen nicht zum Erlebnis der Gläu-

bigen zu machen weiß. Die „Erlösten"
wurden nicht gefchrieben, um eine Mei-
nung i'm Streit der Thomisten und Mo-
linisten zu äußern, sondern aus der tiefge-
fühlten Not der Zeit heraus, der mit theo-
logischer Wissenschaft allein nicht beizu-
kommen ist. Wittigs Forderungen gehen
weiter als auf das isolierte Gebiet der
Rechtfertigungslehre. Sein Kampf gegen
den Moralisierungsprozeß für die echte
Freiheit in der Liebe der Kinder Gottes
ist ein Kampf um den notwendigen Ge-
staltwandel der Kirche. Die Kirche hat
ihren institutiönellen Anfbau in eine
Gesellschaftsordnung hineingettieben, die
heute im Zeichen der Krise steht. Dem
abendländischen Zusammenbruch, soweit
er als Erfchütterung der repräsentativen
Sozialbereiche, vor allem der Staaten,
und als geistige und Kulturkrise in Er-
scheinung ttitt, ist auch sie verfallen, ihr
äußeres Sein wird durch Wandlnng vom
Geiste her die Kraft des inneren zu er-
weisen haben, die starre juridisch-repräsen-
tative Form, die ei'ne Entsprechung zum
souveränen abendländischen Staat ist,
wird dabei nicht anfrecht erhalten werden.
Sie tritt unter das Gebot der Belebung,
der pneumatifchen Entspannung. AIs
äußere, sichtbare Bezeugung der christli-
chen Seele, als Gemeinschaft des allge-
meinen Priestertums, das nicht nur die
Träger des geistlichen Amtes umfaßt,
muß die Kirche bereit sein, dem Anruf der
Zeit, die nicht mehr die Zeit der Könige
und der isolierten Machtstaaten, sondern
die Zeit einer arbeitsverbundenen Völker-
gesellschaft ist, mit eigener Wandlung zu
antworten. Die Kräfte des Glaubens,
der Hoffnung, der Liebe müssen die Trä-
ger dieser Bereitschaft sein, der gegenüber
äußere organisatorische Formen gleich-
gültig werden.

Wittigs Theologie ist die Theologie einer
neuen Begegnung von Kirche und Welt
im Lichte der Endzeit. Sie knüpft beim
Christentum der Katakomben an und
weist auf die Diasporaform der Zukunft
hin, in der sich das Leben aus dem Glau-
ben in und an der Welt zu bewähren
haben wird. Es wäre verfrüht, von einer
i'nnerkirchlichen Bewegung im Sinne der
Gedanken zu sprechen, die im Kreise Wit-
tigs und seiner Freunde vertreten werden.
Älles deutet sogar darauf hin, daß von
den kirchlichen Autoritäten vieles geschieht,
den Aufbruch einer solchen Bewegung im
Keime zu ersticken. Das Verdienst Wit-

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