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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

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Heft 9 (Juniheft 1927)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0233

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erscheint es allerdings, daß nicht das ge-
samte Schafsen Witügs indiziert rvnrde.
Bücher, in denen seine theologische Grund-
position sehr deutlich herausgearbeitet ist,
sind von dem Verbote nicht betrossen
worden.

Und diese religiöse Grnndhaltung ist trotz
allem das eigentlich Wichtige sür die gei-
stige Bedcntung Wittigs nnd für sein
Wirken in die Zeit. Gewiß ist die Form
seiner Verössentlichungen nicht ohne Be-
deutung gewesen sür den Ersolg. Mit
seinen theologischen Ansichten steht Wit-
tig ja nicht allein. Andere haben sie mit
nicht minderer Schärfe vertreten, haben
aber nur in engeren, vornehmlich intel-
lektuellen Kreisen bislang ein Echo ge-
fnnden. Jn einer zerrissenen und geistig
atomisierten Zeit wie der unseren, in der
es keine rechte Volksordnung mehr gibt,
höchstens noch insulare Reste srüherer or-
ganischer Bindungen von Geist und Na-
kur, ist es ein besonderer Glückssall, wenn
ein geistig produktiver Mensch sich mit
dem Schlüssel der Sprache den Zugang
zum Herzen des Volkes noch erschließen
kann. Wittig ist in der Tat ein solcher
Volksschriststeller im besten Sinne des
Wortes. Seine Boderiständigkeit, die Ver-
wurzelung im Volkstum des schlesi'schen
Berglandes, das einer jener Reste wirk-
licher Volkschast ist, von denen oben die
Rede war, seine besondere literarische dich-
terische Begabung, die Begabung, echte
Gemütswerte zu erschließen, haben ihn
da Verständnis finden lassen, wo rein
intellektuale Sprache, auch wenn sie sich
weit über trockene Fachwissenschaft er-
hebt und Zeugnis vom lebendigen Men-
schen gibt, an der gegenwärtigen Diskre-
panz von Geist und Volk aus schwerste
Hemmungen stößt.

Wittigs literarische, dichterische Begabung
steht durchaus eigenständig neben seinem
pneumatisch-theologischen Wirken. Beide
Sphären seiner Person konnten sich unab-
hängig voneinander entwickeln und bedin-
gen einander nicht. Sein belletristisches
Talent ist auf WittigS eigentliche Beru-
fung hin gesehen ein Medium, ein wich-
tiges Medium des Zugangs zu den Men-
schen, an die sich der Theologe Wittig zu
wenden hat. Denn nicht der gemütvolle
Schriftsteller hat Tausenden, die gar nicht
in der Lage wären, echte dichterische Lei-
stung von Kitsch zu unterscheiden, den Na-
men Wittig so teuer gemacht. Wittig
sprach zu ihrer seelischen, ihrer religiösen

Not. Der gläubige Mensch, Glied der
Kirche, der Gemeinschast der Erlösten, und
Berusener zur Freiheit der Kinder Got-
tes ist zugleich Glied dieser Welt und steht
als solches unter dem Gesetze, dem die
Schöpsung verfallen ist. Der Antagonis-
mus von Gut und Böse, vor dem es
kein Entrinnen gibk, weil er der Natur
des Menschen, weil er den Dingen der
Welt ,'mmanent ist, lastet auf den Seelen
der Gläubigen, und alles Streben nach
sittlicher Vollkommenheit im Zeichen des
Gesetzes stößt sich an der Macht objek-
Liver Tatsachen des Lebens wund. Die
Wirklichkei't des Daseins läßt sich mit der
Lehre des GesetzeS rein vom Menschen
aus nicht in Einklang bringen. Das Be-
wußtsein von der Tatsache des Erlöst-
seins, die rechke Dorstellung vom Wir-
ken der göttlichen Gnade, vom Gebun-
densein der Eigenwirksamkeit des Men-
schen in der Allwirksamkeit Gottes ist
unter dem Einsluß der seelsorglichen Pra-
xis der letzten Jahrhunderte im katholi-
schen Kirchenvolk mehr und mehr ge-
schwunden. Die katholische Ablehmmg
des absoluten TranSzendentismus der Re-
formatoren hat zu einer Überbetonung
menschlicher Mitwirkung am Werke der
Rechtsertigung vor Gott geführt. Und
in demselben Maße, in dem sich das pro-
sane, irdische Leben aus der mittelalter-
lichen Einbeziehung in eine von der Kirche
her verwirklichte christliche Gesellschasts-
ordnung löste, in dem also eine direkte
Einflußnahme der Kirche auf die Lösung
der innerweltlichen Fragen unmöglich ge-
macht wurde, verschoben sich die kirchli-
chen Ansprüche aus den indirekten Weg
der Einwirkung vom Sittengesetz her. Die
Formuliernng des sogenannten Natur-
rechtes und die Verkündung der daraus
ausgebauten Soziallehren und Moralge-
setze haben eine schwere Gesährdung des
innerkirchlichen, religiösen Lebens hervor-
gerufen. Das Sündenbewußtsein hat statt
der religiösen mehr und mehr eine mora-
lische Form angenommen, das Gericht
Gottes anthropomorphisierte sich zum Be-
griss der irdischen Gerechtigkei't. So ent-
stand wirkliche Glanbensnok; das Leben
in der Wirklichkeit der Gnade, in der rea-
len Beziehung der Sohnschaft ging ver-
loren.

Man muß in katholischer Umgebung le-
ben und die privaten seelischen Nöte gläu-
biger Menschen aus ossenen und versteck-
ten Andeutungen ersahren haben, um den

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