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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 40,2.1927

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Heft 10 (Juliheft 1927)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8882#0295

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da wiinder, daß der geistige Mensch
verstimmt wird, wenn er sich etwa eine
klare Form moderner Weltgesmmmg oder
das „Drama der Gegenwart" ersehnt
nnd ihm daS Gewünschte von den eisrlg
bemühten Federn immer wieder nicht
zur Znsriedenheit geiiesert wird? Ent-
tänscht wird er die Arme sinken iassen
nnd eher vom Untergang der Knnst oder
gar des Abendiandes zu tränmen an-
sangen, als daß er ans seine Liebiings-
schimäre verzichtete.

Aber es scheint doch, als ob wir von den
kommenden Dingen geistiger Kultnr mit
längerem Atem sprechen und denken müß-
ten. Unser Schnelligkeitsbedürsnis und
ein Antotyp, der ihm entspricht, daS mag
miteinander zusammengehen; wer aber
sagt uns, daß das Drama als eine
sormale Wesenheit (das ja aus seine
Zeit warten kann) überhanpt jetzt, gerade
jetzt zu uns will? Sollen wir uns be-
klagen, daß wir in der „falschen Stunde"
leben? Aber das hieße ja uns selber auf-
geben.

Es zeigt wenig Respekt vor den Ge-
setzen geistigen WachswmS und ihrer
Unabhängigkeit von imseren Tagesbe-
dürsnissen, wenn wir sie lediglich von
unserem kulturellen Bedars aus bewach-
ten. Jst die Zeit darum arm, weil sie
seit langem uns etwa ein Drama großen
Stils oder den großen philosophischen
Deuter nnserer Tage versagt hat?

Die Zeit von i62c> bis 17L0 beispiels-
weise brachte kein nennenswertes deut-
sches Drama hervor; und doch wird nie-
mand von uns Nachgeborenen den Mut
aufbringen, eine Zeitspanne kulturell un-
sruchtbar zu nennen, die sür die Musiker
Bach und Händel Raum hatte. Jn dem-
selben Zeitraum schrieb Shakespeare seine
großen Dramen, und es ist nicht zu ver-
muten, daß die damaligen Deutschen von
der Zwangsvorstellung des „Epigonen-
wms" oder deriinwüröigenAbhängigkeit
vom „auöländischen" Schassen geplagt
wurden, wenn ihnen damals englische
Schauspielergesellschaften einen Abglanz
des dramatischen Werkes des englischen
Dichters zu verschassen suchten.

Es ist der schwere Nachteil der aus die
Spitze getriebenen Publizität, daß sie,
die ihrem Wesen nach immer im Zustand
der Erwartung, des kulturellen Aus-der-
Lauer-Liegens sich befinden muß, die Ge-
duld und die Spannkrast deS Wartens
aus Blüte und Frucht nicht aufbringen

kann. So wesentlich und unentbehrlich
die Kontrolle des künstlerisch-kulturellen
Schassens durch Organe der Ossentlich-
keit ist, so gewaltsam und künstlich nimmt
sich das Austreten mancher kritischen
Bakelschwinger aus, die in einer Art von
künstlerischem Bollständigkeitstrieb gerne
jede knlturelle Sphäre allezeit komplett
haben wollen und allmonatlich nach dem
Werke ansschauen, das die Menschheit
endgültig „retten" oder irgendeine Spitzen- -
leiswng der betressenden knlwrellen Sphäre
darstellen soll.

Seltsam: unsere Zeit hat sich in ihrem
geistigen Bewußtsein mit der Rolle einer
Übergangszeit ahgesunden, in der sich
die Materialien eines kommenden Kul-
wrstils vorbereiten — und sie sordert
doch imnier wieder oon der Einzelleiswng
die Einheitlichkeit des Stils, der sich
in der Sphäre der Zeit rein nicht vor-
sindet. Wäre erst unsere Zeit sicherer
erfüllt von dem Gedanken, einer kom-
menden Zukunft Werkzeuge und Roh-
stoss, vielleicht sogar Gestalwngssormen
übergeben zu können, dann siele auch
von vielen Gemütern jene hysterische
Angst, die Gegenwart in eine geglaubte
kulwrelle Dekadenz versinken zn sehen,
die es um jeden Preis auszuhalten gelte.

Jn diesen Zusammenhang gehört auch
jene Angst vor der technischen Zivilisa-
tion, die ja auch auf den ersten Blick
beklemmend genug aussieht; es verrät
allzu wenig Glaübe an die überzeugende
Kraft einer kulwrellen Jdee, wenn man
sie im schicksalsgegebenen Angenblick
nicht für stark genug hält, diese ganze,
heute übermächtige Technik in ihren
Dienst zu zwingen; bis dahin mag die
Menschheit ungekränkt sich in dieser Tech-
nik einen krästigen Arm schmieden, der
eines Tages etwas Wesentliches und
Größeres bewegen helfen wird.

Die armen Künstler, denen es gelingt,
mit einem Erstlingswerk das Aussehen
der Ossentlichkeit zu erregen! Sie wer-
den so dringend „enkuragiert", die von
ihnen gegebene Verheißnng wird ihnen
wie ein Brandmal aus die Stirne ge-
drückt und fiebernd häufen sie Opus
aus Opus, um die in sie gesetzten Hoss-
nungen zu erfüllen, — bis sie nach Jah-
ressrist selbst von ihren treuesten Freun-
den prei'Sgegeben werden und nian mit
unvermindertem Eiser auf den aller-
neuesten kommenden Mann setzt.

Aber sollte gerade die Not unserer Tage

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