Lrstes Februar-Dett 1S92.
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9. Ltück.
Lrscbeint
am Ansang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinaud Nvenarius.
Kestellprels:
vierteljährlich 2t/s Mark. Z.
Die Wausleine
uncresthetisch! Liu reiu aesthetischer
Genuß ist auf solchem Bodeu uumöglich.
Vom ethischeu Standpuukt aus lautet das
Urteil sreilich gauz auders, als vom
aesthetischen. Aesthetik uud Lthik schlageu sich hier
geradezu ius Gesicht. Aber nicht eiumal aesthetisch
ist das gerechtsertigt. Gin derartiger Stoss liegt ebeu
außerhalb des 2lesthetischen. Giu Nomau ist über-
haupt kein rein aesthetisches IVerk. Nur das reiu
Aesthetische ist ewig wie das rein Lthische, alle Zeiteu
köunen es versteheu uud genießeu. Der aesthetische
Staudpunkt uuter, ueben uud über dem moralischeu.
Vor der Aesthetik siud alle Weseu und Diuge eiuauder
gleich. Für eiue moderue Aesthetik ist die Zeit noch
nicht gekommen. Aesthetische Artikel müssen iu seder
Nedaktion zurücktreteu, wo wichtigeres deu jAatz
beausprucht. Der aesthetische Geuuß eines Ruust-
werkes hat mit desseu kritischer Beurteilung uichts zu
thuu; das siud zwei gauz selbstäudige Gebiete. Lseute
Abeud ist übrigeus bei ^ens aesthetischer Thee! —
* Fragen, wie die von dem pseudonymen Verfasser dieses
Aufsatzes behandelten, sind so wichtig sür eine unbefangene
wiirdigung unserer Runst, daß wir sie im „Runstwart" un-
möglich unbesprochen lassen dürfen, aber sie sind auch so ab-
strakten IVesens, daß sie sich im Anschluß an bestimmte Runst-
werke nnr mit Gezwungenheit erörtern ließen. lvir bringen
die Arbeit an dieser Stelle, obgleich wir sehr wohl wissen, daß
sie manchem unserer Freunde eine ungewöhnliche geistige
Bemühung zumutet. Ls geht eben nicht an, sich um die hier
besprochenen Fragen „herumzudrücken", wenn man nicht nur
eine lNeinung, sondern auch ein Urteil in Aunstsachen be-
gründen will. Aber wir betonen: der „Aunstwart" wird nicht
von seinem Grundsatze abweichen, aesthetische Auseinander-
setzungen soviel wie irgend möglich nur im dlnschluß an be-
stimmte Aunsterscheinungen zu unterbreiten und „Aonkretes"
zu bieten, wo es irgend angeht. R.-L.
der Dicktung.*
Gine hübsche Blütenlese, und es ist nicht zu viel
behauptet, weun man sagt, daß in fast jedem dieser
Sätzchen Aesthetik und aesthetisch etwas verschiedenes
bedeute. Und doch sind sie keineswegs willkürliche
Trfindungen, sondern seder wird sich erinnern, sie
schon einmal an angesehener ^telle gelesen zu haben.
Selbst zugegeben, daß die bsälfte von ihnen gedanken-
losen Uöxfen entsprungen ist und überhaupt auf
keinerlei klarer Vorstellung beruht, so bleibt doch immer
noch die andere khälfte übrig. Ulan versteht sich heute
in Diskussionen über aesthetische Lragen merkwürdig
wenig. Sollten diese in der Gegenwart vielleicht
auch deswegen so schwierig sein, weil hier jede klare,
ausgebildete Terminologie fehlt und man sich wechsel-
seitig unaufhörlich mißversteht?
Bis au den Anfang des vorigen Iahrhunderts
wußte man noch, daß Aesthetik von aistbLnomai
kommt, und daß dieses U)ort lVahrnehmen bedeutet.
Aesthetik konute man also etwa die Lehre von den
bVahrnehmungen nennen. Uian war aber bereits
gewöhnt, aus der Fülle des IVahrnehmens eine be-
sondere^eite herauszugreifen, die von hervorragendster
wissenschaftlicher Bedeutung zu sein schien, die Seite
des Trkennens, die man nach der TVeise der alten
Nletaphysik auf ein besonderes selbständiges Trkenntnis-
vermögen zurückführte. Aber man wußte auch gut,
oder erinnerte sich dessen wenigstens gelegentlich ein-
mal mit, daß ein Trkenntniswert nie rein abstrakt
vorliegt, sondern, daß jede lVahrnehmung an ein
Gefühl gebunden ist. Aesthetik hätte man also definiren
sollen als die Lehre von dem Gefühlswert der kVahr-
nehmungen oder, wie man es noch verallgemeinern
kann, von dem Gefühlswert der Vorstellungen. Sie
behandelt die Frage, welche Stellung unser Gefühl,
unser Geschmack, unser Gemüt gegenüber jeder Vor-
stellung einnimmt, also ob schön oder häßlich, erhaben
oder erbärmlich, interessant oder gleichgiltig, bedeutend
— 125 —
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9. Ltück.
Lrscbeint
am Ansang und in der Mitte
Derausgeber:
Ferdinaud Nvenarius.
Kestellprels:
vierteljährlich 2t/s Mark. Z.
Die Wausleine
uncresthetisch! Liu reiu aesthetischer
Genuß ist auf solchem Bodeu uumöglich.
Vom ethischeu Standpuukt aus lautet das
Urteil sreilich gauz auders, als vom
aesthetischen. Aesthetik uud Lthik schlageu sich hier
geradezu ius Gesicht. Aber nicht eiumal aesthetisch
ist das gerechtsertigt. Gin derartiger Stoss liegt ebeu
außerhalb des 2lesthetischen. Giu Nomau ist über-
haupt kein rein aesthetisches IVerk. Nur das reiu
Aesthetische ist ewig wie das rein Lthische, alle Zeiteu
köunen es versteheu uud genießeu. Der aesthetische
Staudpunkt uuter, ueben uud über dem moralischeu.
Vor der Aesthetik siud alle Weseu und Diuge eiuauder
gleich. Für eiue moderue Aesthetik ist die Zeit noch
nicht gekommen. Aesthetische Artikel müssen iu seder
Nedaktion zurücktreteu, wo wichtigeres deu jAatz
beausprucht. Der aesthetische Geuuß eines Ruust-
werkes hat mit desseu kritischer Beurteilung uichts zu
thuu; das siud zwei gauz selbstäudige Gebiete. Lseute
Abeud ist übrigeus bei ^ens aesthetischer Thee! —
* Fragen, wie die von dem pseudonymen Verfasser dieses
Aufsatzes behandelten, sind so wichtig sür eine unbefangene
wiirdigung unserer Runst, daß wir sie im „Runstwart" un-
möglich unbesprochen lassen dürfen, aber sie sind auch so ab-
strakten IVesens, daß sie sich im Anschluß an bestimmte Runst-
werke nnr mit Gezwungenheit erörtern ließen. lvir bringen
die Arbeit an dieser Stelle, obgleich wir sehr wohl wissen, daß
sie manchem unserer Freunde eine ungewöhnliche geistige
Bemühung zumutet. Ls geht eben nicht an, sich um die hier
besprochenen Fragen „herumzudrücken", wenn man nicht nur
eine lNeinung, sondern auch ein Urteil in Aunstsachen be-
gründen will. Aber wir betonen: der „Aunstwart" wird nicht
von seinem Grundsatze abweichen, aesthetische Auseinander-
setzungen soviel wie irgend möglich nur im dlnschluß an be-
stimmte Aunsterscheinungen zu unterbreiten und „Aonkretes"
zu bieten, wo es irgend angeht. R.-L.
der Dicktung.*
Gine hübsche Blütenlese, und es ist nicht zu viel
behauptet, weun man sagt, daß in fast jedem dieser
Sätzchen Aesthetik und aesthetisch etwas verschiedenes
bedeute. Und doch sind sie keineswegs willkürliche
Trfindungen, sondern seder wird sich erinnern, sie
schon einmal an angesehener ^telle gelesen zu haben.
Selbst zugegeben, daß die bsälfte von ihnen gedanken-
losen Uöxfen entsprungen ist und überhaupt auf
keinerlei klarer Vorstellung beruht, so bleibt doch immer
noch die andere khälfte übrig. Ulan versteht sich heute
in Diskussionen über aesthetische Lragen merkwürdig
wenig. Sollten diese in der Gegenwart vielleicht
auch deswegen so schwierig sein, weil hier jede klare,
ausgebildete Terminologie fehlt und man sich wechsel-
seitig unaufhörlich mißversteht?
Bis au den Anfang des vorigen Iahrhunderts
wußte man noch, daß Aesthetik von aistbLnomai
kommt, und daß dieses U)ort lVahrnehmen bedeutet.
Aesthetik konute man also etwa die Lehre von den
bVahrnehmungen nennen. Uian war aber bereits
gewöhnt, aus der Fülle des IVahrnehmens eine be-
sondere^eite herauszugreifen, die von hervorragendster
wissenschaftlicher Bedeutung zu sein schien, die Seite
des Trkennens, die man nach der TVeise der alten
Nletaphysik auf ein besonderes selbständiges Trkenntnis-
vermögen zurückführte. Aber man wußte auch gut,
oder erinnerte sich dessen wenigstens gelegentlich ein-
mal mit, daß ein Trkenntniswert nie rein abstrakt
vorliegt, sondern, daß jede lVahrnehmung an ein
Gefühl gebunden ist. Aesthetik hätte man also definiren
sollen als die Lehre von dem Gefühlswert der kVahr-
nehmungen oder, wie man es noch verallgemeinern
kann, von dem Gefühlswert der Vorstellungen. Sie
behandelt die Frage, welche Stellung unser Gefühl,
unser Geschmack, unser Gemüt gegenüber jeder Vor-
stellung einnimmt, also ob schön oder häßlich, erhaben
oder erbärmlich, interessant oder gleichgiltig, bedeutend
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