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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

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Heft 9 (1. Februarheft 1892)
DOI Artikel:
Tille, Alexander: Die Bausteine der Dichtung, [1]
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0135

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mein lattgsain aus deitt Wege geräruttt werdeu. So
beisxielsweise, daß der reife Mami, der mit seiuem
Deuken läugst über deu ?lberglauben hiuaus ist,
deuuoch iu seiuem Gefühl etwas wie eiuen Schatteu
vou Lhrfurcht dafür behält, deu er uur schwer über-
wiudeu kaim.

Gine ebensolche Tradition besteht in der ^iteratur.
Iede Zeit bevorzugt irgeud eiu bestimmtes Stoffge-
biet, irgeud bestimmte Szeuen uud bestimmte Färbuugeu
der Darstelluug. Dadurch wird die „aesthetische"
Bilduug des Rindes, des Zünglings beeinflußt.

Märe Raut statt -von seiuem Dogma vom uninter-
esfirten wohlgefalleu vou der Lrfahruug ausgegaugeu,
er hätte uuzweifelhaft gefuudeu, daß zu verschiedeueu Zei-
teu sehr verschiedeues gefalleu habe, uud daß das wort:
„Über deu Geschmack läßt sich uicht streiteu", d. h. Zeder
hat seiueu eigeueu Geschmaek, wahr sei. Daß es aber
gleichwohl Diuge giebt, die ganzen Zeiten und gauzeu
Völkeru besouders gefallen, würde daim leicht darauf

geführt habeu, daß der Geschmaek iuuerhalb gewisser
Greuzen lehrbar, mitteilbar sowie abhängig von ge-
wifsen Lebensbedittgungett der Zeiten sein muß. viel
weuiger ist iu uus fa selbstgeschaffeu als über-
kommeu. wer feiue eigeueu Siuue zu braucheu ge-
lerut hat, wird freilich uuter Uinstäudeu bald über
die überlieferten Geschmaeksurteile hiuauskommeu.
Aber wie viele Akeuschen köimen deim ihre Siime
selbftändig gebrauchen? wie viele seheu deuu mehr
als audere uud siud so Lortbilduer des Grbschatzes
an Gesichtsvorstelluugeu? Auf diesem wege muß
jede Autersuchuug dahin koininen, daß nach dem
Satze von der Linheit des Bewußtseins im letzteu
Gruude das aesthetische Urteil des Alenschen von
seiner 2lrt der weltbetrachtung, vou seiuer Bilduug,
vou seiueu Fähigkeiteu abhäugig oder eiudeutig durch
seiu äußeres uud iimeres „Alilieu" bestimmt ist.

(Liu Schlußanfsatz falgt.)

Alexander Lnuenstein.


NnndsckAU.

Dicdtung.

* Die Versönltcdheit des Dicdters.

(Schluß.)

Also eine ruhelose, weun auch keiueswegs freuden-
lose Arbeit von beispielloser Anspanuuttg bis zur Be-
sessenheit, das ist die Bedingung des Rünftlers und
Dichters großen Stils. Lntweder Gkkupation oder
j?räokkupation, niemals völlige j?ause. Rönnen Sie
nun hoffen, mit einem derart in sein Lebenswerk ge-
fangenen Menschen gedeihlichen Umgang zu pflegeu?
Alit ihm zu „schwärmen" oder ihm überhaupt uur
für irgeud etwas Anderes eiu tieferes Znteresse ein-
zuflößen? Unmöglich. Nücksichtslos wird er entfernen,
ja nötigenfalls zerstören, was ihn hemmt: Alenschen
und Verhältnisse. Und mit Uecht. Denn Menschen
und verhältnisse vergehen, fe'm werk aber soll bleiben.
Dadurch kommt er freilich in den Uuf des Lgois-
mus, wie übrigens jeder fleißige Ulensch. Lsätten
wir nur viel von demjenigen „Lgoismus", der sich
einem idealen werk opfert! — Uttt welcher Natur-
gewalt aber bei energisch produktiven Rüustlern das
jeweilige Arbeitsthema den Ulenschen gefangen nimmt
und für alles andere verstockt und verblendet, dasür
besitzen wir einen hübschen Ausdruck von Balzae.
Als ihm einmal ein Freund wichtige Nachrichten
brachte, unterbrach er ihn: „Sprechen wir lieber von
der wirklichkeit", sagte er und fing an von einer
seiner Nomanfiguren zu reden. Das trifft den Nagel
auf den Ropf: dem Rünstler und Dichter großen
Schlages ist sein werk wirklichkeit, alles Andere ver-
hängt ein, Schleier. Nicht etwa wegen „Begeisteruug";
denn ein großer Geist ist nie „begeistert", sondernwegen
jOflichtgefühls oder richtiger wegen des Bewußtseins
dessen, was er thun kann und deshalb thun muß.

Zndem ich dem Dichter Begeisterung abspreche,
muß ich woh! dieses j?aradoxon etwas erklären. Lr-
hebung und zwar hohe Lrhebung findet gewiß statt,
ja, sie bildet die Grundbedingung des Schaffens, allein
nur in der allerersten Zeit wird fie als Lxaltation
empfunden, später lebt der produktive Rünstler der-
maßen mit der sshantafie beständig in der Lsöhenluft,

daß eine Steigung nicht mehr wahrgenommen wird.
Selbst die Bision oder Ronzeption oder wie man den
plötzlichen Reimprozeß der geiftigen Schöpfung sonst
nennen will, stellt sich nicht mehr unter Lrschütterungen
des ganzen Nkenschen ein, wie in der ersten Zugend,
sondern nur unter seelischem Bildglanz, durch welchen
eine tiefe Traurigkeit zittert. Denn alle wahrheit,
von der Lsöhe des Lebens geschaut, ist traurig, und
die Visionen, die sich dem erwachsenen Dichter auf-
drängen, tragen das Totenhemd begrabener Hoff-
nungen. Äch innerlich aufzuschwingen, um in den
Lüften nach Linfällen zu jagen, das fällt keinem
Nleister ein; der hat genug zu thun, die von selbst
auferstehenden Toten teils zu bannen, teils zu be-
friedigen. wie Odysseus in der Lföhle, als die
Schatten ihn beftürmten, um Leib und Leben bettelnd,
so daß er sich ihrer mit dem Schwerte erwehren
mußte. Die meisten Schatten lassen sich abwehren,
einige von ihnen aber werden so zudringlich, so läftig,
so drohend, daß ihre Forderung bewilligt werden
muß. Das siud die Stoffe, die man wirklich aus-
führt, das werden die Bücher, die man schreibt. Auch
während der Ausführung versagt sich der Nleister den
Genuß der Begeisterung an den eigenen Bildern.
Stoff und Arbeit, Aufgabe und Lösung, das sind seine
Rategorieen; richtig und genau zu vollfertigen, was
die Ronzeption erheifcht, ist seine bange Sorge. was
an Schönheit dabei abfällt, heimst er eifrig ein, aber
ohne sich dabei aufzuhalten, ohne es aufzukosten, wie
es der Anfänger thut, und wie es später der Ge-
nießende thun wird und thun soll und darf; weil
aller Fortschritt darauf beruht, daß das Trstaunliche
als selbstverständlich empfunden werde. Das ganze
verhältnis, ich meine den Unterschied zwischen der
poetischen Schwärmerei des Anfängers und der Ralt-
blütigkeit des wleisters angesichts der entzückendsten
Visionen hat La Bruyere sehr schön in folgendem
j?aradoxon ausgedrückt: „Der Unterschied zwischen
einem Genie und einem j?fuscher besteht darin, daß
der j)fuscher sich bemüht, erhaben zu sein, während
das Genie sich damit begnügt, exakt sein zu wollen."




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