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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

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Heft 10 (2. Februarheft 1892)
DOI Artikel:
Tille, Alexander: Die Bausteine der Dichtung, [2]
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0150

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das hätte dann die Grundlage der neuen Dichtung
zu sein.

Das, was in der Gegenwart am rneisten auf
die Urngestaltung urrserer gesamten lVeltanschauung
wirkt, sind die naturwissenschaftlichen Renntnisse. U7it
ihrer Lsilfe setzt sich gegenwärtig die frühere ^till-
standsarrschauung in eine Lntwicklungsanschauung um.
Iede neue Grwerbung in dieser bsinsicht verstößt
gegerr eine alte in uns festgewurzelte Arrschauung,
mrd wie sie auch rein gedächtnismäßig, durch Lernen,
durch absichtliches Linxrägen irr uns rrach und nach
Zustimmung finden kann, im Anfang wird sie uns
doch immer einen gewissen 5chmerz verursachen. Mie
sich auch das Gefühl dagegen sträubt, eine alte liebe
Anschauung aufzugeberr, die lVucht der Thatsachen
ist immer stärker. Die Lrucht einer neuen Grkenntnis
rrrag anfangs dem Gefühl rroch so häßlich sein —
die unlustvollen Begleitgefühle ändern sich, wie die
rreuerr Vorstellungen fester und fester mit dem übrigerr
Gedankeninhalt verwebt werden. Linem Akoleschott
oder Büchner bedeutet der roheste Materialismus,
wie leichtsinrrig er sich über fede Lrkenntnistheorie weg-
setzen mag, fetzt, da er einen festen Bestandteil ihrer
Ueberzeugung bildet, auch hohe ästhetische werte,
so schwer es dem Gegner des Materialismus werderr

mag, sich das vorzustellen. was mir „in Aeisch
uird Blut übergegangerr ist" als tiefe Ueberzeugung,
das ist für mich nicht „xoesielos", mag es sein, was
es sei. N)enn aber fenrand von etwas, das er nur
halb oder gar nicht kennt und das noch dazu seiner
eigenen gewohnten Anschauung stracks widerspricht,
klagt, daß es „poesielos" sei, d. h. daß es ihm nicht
gefalle — ist das wurrderlich? Aber hat es irgerrd-
welche Bedeutung für Leute, die mit einem anderen
Bewußtseinsinhalt demselben Dinge entgegentreten
urrd es reich firrderr arr j)oesie? Und wenn es diese
nicht hat, ist es darrn als sachliches Urteil z. B. über
derr U)ert eines Uunstwerks vernünftig?

Nicht nrrr die Lormen der Gebäude, welche die
Dichtung errichtet, verändern sich, wie die Stilweiserr
der Tempel und Dome. sonderrr auch der 5toff selber,
der für diese Bauterr brauchbar ist, ist rricht zu allen
Zeiten ganz derselbe: nicht alle Bausteine, aus derren
die Dichtung des Tinst ihre Werke schuf, körrnen
ihr heute noch dierren, während sie arrdere mit vollem
Necht verwenden karrn, die unsere Vorfahren beiseit
lassen mußterr. weder gleich zu allen Zeiterr, noch
gleich für die verschiederren Wenschen sind die Bau-
steine der Dichturrg, die Gefühlswerte der Vorstell-
uugen. Nlexander Lauenstein.

Illundscbuu.

Dicbtung.

* Über KglltkdcN schreibt Georg L. Geilfus
gelcgentlich einer längeren Studie, die er den alt-
schottischen Volksballaden in der „Frai kf. Z." widmet,
u. A. das Folgende:

„Seit Lserder weiteren Rreiserr das Verständnis
sür die Schätze der volkspoesie erschlossen und damit,
ähnlich wie ^)ercy in Tngland, den letzten kräftigen
Stoß gegen eine unnatürliche, verweichlichte Runstperiode
geführt hat, sind die Forschungen auf dem Gebiet des
Volksgesangs nirgends so eifrig und erfolgreich be-
trieben worden, wie in Deutschland. Lsiei' haben bis
in die neueste Zeit namhafte Gelehrte und Dichter
die Aenntnis dieses eigentümlichen Zweiges der
Dichtkunst zu mehren gesucht, durch zahlreiche Sarnrn-
lungen seine Erzeugnisse vor der Vergessenheit bewahrt
und in Lssays und größeren Schriften seine Bedeutung,
Geschichte und Ligenart klargelegt. Und zwar nicht
nur für das deutsche volkslied, nicht nur für das der
germanischen ^tämme — in den romanischen Ländern
ebenso, wie im fernen Orient, in den eintönigen
^teppen Süd-Nußlands und unter den uralten Mäl-
dern Nord-Amerrkas, überall haben deutsche Forscher
gesammelt. Zahlreiche Übersetzungen haben uns mit
diesen Schätzen fremder Nationen bekannt gemacht
und uns mehr als alles Andere Geist und Tharakter
derselben erschlossen. U)as man schon gleich nach
Üerders Bestrebungen geglaubt, daß Deutschland in
heroorragender weise befähigt sei, der Mittelpunkt
einer weltlyrik zu werden, hat sich glänzend verwirk-
licht, und jetzt, hundert Zahre nach bserders erstern
^chritt, besitzen wir eine Literatur des Volkslieds wie
kein zweites l)olk.

Aber noch eine andere Dichtungsgattung hat
deutsche Runst zu großer vollendung gebracht: Die
Ballade. Die Ballade — welch eine bunte märchen-
duftige welt steigt empor in unserer j?hantasie beim
Rlange dieses Namens! Line farbenprächtige, und doch
ernste welt, eine welt voll von Aämpfen und Leiden,
voll düsterer Gewalten, die hereinragen in das Leben
der Nlenschen, voll wilder, ungezügelter Leidenschaften!
Und darüber schwebt drohend die nie raftende ver-
geltung, das rächende Schicksal. 5o komrnt die Ballade
der Tragödie nahe, und die besten Lrzeugnisse ihrer
Art sind die, in welchen der kseld den gewaltigen
Rarnpf gegen das unerbittliche Geschick unternimrnt.
Oft genug zwar hat man als wesentlichen Znhalt
der Ballade jene nordischen Geister- und Llfen-Ge-
schichten gesordert, die in den alten Volksliedern
unserer Bruderstämme eine so große Nolle spielen,
oder man verlangte doch Stoffe aus jener märchen-
haften Zeit, von der die alten Nitterchroniken er-
zählen. Und doch braucht man nur einen kurzen
Blick auf die deutsche Balladendichtung der letzten
hundert Zahre zu werfen, um es zu erkennen, wie
fähig diese Dichtungsgattung auch zur verarbeitung
rnoderner Stoffe ist. Bürger, der vornehmlich durch
seine »Lenore« der Balladenpoesie Tingang in Deutsch-
land verschafft, hat gerade in Tesern seinem berühm-
testen Gedicht einen für die damalige Zeit ganz
rnodernen ^toff behandelt, Lsebbels ergreifende
»Ballade«, »Der Glockenguß zu Breslau« von
Wüller, »Der Reiter und der Bodensee« und »Das
Gewitter« von Schwab, »Nübezahl« von Freiligrath,
besonders auch »Zudith Lirnon« von dem ungarischen
Dichter Zosef Riß, sie alle beweisen, wie geeignet die
Ballade zur dichterischen verarbeitung von Stoffen ist,



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