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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1892)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Wahrheit?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0180

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Lweites /Därz-Dett.

12. Stück.

Lrscbeint

Iberausgeber:

Ferdinand Nvenarius.

Kesrellprets:
vierteljährlich 21/9 Ulark.

5. Zsbrg.

.Mabrbeit?



egenüber den Batterien dramatischen Feld-
zeugs, aus denen unter Ibsens Gberbefehl
seit einigen Iahren allerlei Standplätze un-
serer Aultur beschossen werden, die bisher
für woht gesichert galten, fahren endlich auch die Ver-
teidiger des Bestehenden ihre Geschütze auf. So ziem-
lich alle Gattungen find dabei vertreten von der
schwerkalibrigen Ranone der moralischen Gntrüstung
bis zur leichten witzmitrailleuse, und jeder verehrer
tapferen Wlännerkampfes auf den Gebieten des Geistes
könnte seine Freude daran haben — würde nur ein
wenig besser gezielt. wie schlecht aber die neuen
Rämpfer sehen, wo eigentlich ihr Gegner steht, wie
wenig diesem daher die Geschosse hier gefährlich wer-
den, das ist nur durch die Annahme außerordentlich
verbreiteter Rurzfichtigkeit erklärlich. Unbildlich ge-
sprochen: von den deutschen Dramen gegen die „U?o-
dernen" besitzt kaum eines den literarischen wert,
den die Bekämpfung eines neuen jDrinzips durch wirk-
lich tiefe und einsichtsreiche Gegner doch immer ge-
währen müßte. wir wünschten es von Herzen, daß
den schroffen Linseitigkeiten Ibsens und seiner Nach-
folger ein ebenbürtiger Gegner auch unter den j)o-
lemikern auf der Bühne erstände, wir wünschten es,
weil wir in der Uunst die Lserrschaft nur einer welt-
anschauung für ein Übel selbst dann halten, wenn
wir von ihrem sittlichen wert überzeugt sind. Stücke
aber, wie wildenbruchs „Heiliges Lachen" und Lin-
daus „Sonne" sind so tief minderwertig, verglichen
mit Ibsens dichterischen Gaben, daß die Steine, die
man nach dem Norweger wirft, beinahe zu Bau-
steinen eines postaments für ihn werden.

Nur einem der werke kann ich persönlich litera-
rischen wert zusprechen, paul Lseyses Schauspiel
„wahrheit?". Nicht, weil ich ihm große poetische Be-
deutung nachrühmen dürfte — ich bekenne, daß ich
es rein als dichterische Leistung nicht zu den besten

Schöpfungen des in seiner Feingeistigkeit von vielen
der „wlodernen" nicht verstandenen und deshalb be-
fehdeten und verspotteten Dichters zähle. ^ondern
deshalb, weil es in der That das Bekenntnis einer
ernsten Lebensauffassung und einer reichen Tebens-
kenntnis in ehrlicher weise, d. h. ohne Lrschleichereien
und Zerrbildungen, niederzulegen sucht. Aber auch
Lseyses „wahrheit?" kommt für die Bekämpfung der
„wlodernen" gar nicht in Frage. „wahrheit um
jeden jDreis zu sagen, wahrheit ohne vor- und Nück-
sicht, ist eine Dummheit, wo es nicht eine Rohheit ist,
und kann hundertfältigen Fluch bringen statt des
Segens" — ich wüßte nicht, welch andere Nloral
man aus dem Stücke zunächst lesen wollte, als diese.
Und eben diese hat kein j)oet eindringlicher und mit
größerer dichterischer Uraft gepredigt — als m der
„wildente" eben Henrik Ibsen. So gewiß das ist,
so merkwürdig ist es, daß allerhand worte aus dem
wlunde der Schauspieler aä spectutores die Annahme,
daß bsevse gegen Zbsen aufzutreten glaubte, dem
großen j)ublikum und oberflächlichen Rritlkern in der
That nahe legen. Ich möchte schon deshalb nicht
glauben, daß ein so kluger und kunstoerständiger Nlann
sie anders, als zur Tharakteristik der auftretenden
j)ersonen benutzen wollte, weil sie meist gar zu leicht
zu widerlegen sind. wenn z. B. die würdige Groß-
mama die Schönheit der sixtinischen Ntadonna als
etwas hinstellt, was die modernen „Naturalisten" ver-
achten, so könnte ihr wohl jeder, der mit jüngeren
Rünstlern verkehrt, aus seiner Bekanntschaft einige
der härtestgesottenen Naturalisten nennen, die eine
Nachbildung jener Äxtina ganz wie die Großmama
selber als Schmuck im Zimmer haben, während jeder,
der das Wunderwerk nicht auch bewunderte, schwer-
lich ernsthaft genommen würde. Sagt aber die alte
Dame: ja, dieses Bild war schön, wie häßlich ist nun
dagegen eines von Uhde mit einem zerlumpten

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