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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

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Heft 12 (2. Märzheft 1892)
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Avenarius, Ferdinand: "Wahrheit?"
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0181

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j)roletarierweib als Gottesmutter — so zeigt sie sich
damit beiuabe als eine kleine heimliche Materialistin.
Rafael empfand und malte Maria die angebetete
^immelskönigin, Uhde empfand nnd malte A'laria das
ärmliche weib, das aus tiefer Niedrigkeit einst empor-
steigen wird, bis es jene Lsimmelskönigin geworden
ist. wohlgefallen und Glanz auch für das Auge
verlangte jene erste Idee, Schlichtheit und Armselig.
keit des Sinnenfälligen verlangte die zweite, sollte die
seelische Schönheit in ihr tief wirken, sollte sie
innig wirken. Auch die gute alte Dame aber sollte
doch die seelische Schönheit höher stellen, als die leib-
liche. ^at sie die seelische in Uhdes Bild gar nicht
gesehen, verlangt sie auch bei diesem vorwurf schöne
Gesichter, Bewegungen und Faltenwürfe, obgleich diese
doch hier den schönsten, den seelischen Gehalt ver-
dunkelten, statt erhellten: ja, so muß ihr wohl Ge-
fälligkeit für das Auge mehr gelten, als seelische Tiefe —
falls sie überhaupt ein Runstwerk auf sein eigentliches
wesen hin beurteilen kann.

was ist wahrheit? Die alte Frage der weisen
und der Narren ist bekanntlich hinsichtlich der meisten
Sachen leider noch immer nicht endgiltig beantwortet
worden. Tritt eine Runst oder treten die Uünstler
mit dem Anspruche auf, wahrheit zu geben, so muß
das also in besonderem Änne verstanden werden.
welche Bedeutung überhaupt kann es vernünftiger-
weise nur haben?

wenn ich als Rünstler ein Runstwerk schaffe, so
treten zwei Dinge zu einander in Beziehung: mein
„Uorwurf", der „Stoff" meines Runstwerks, und jene
Fülle angeborenen oder erworbenen Seeleninhalts, die
meine geiftige j?ersönlichkeit bildet, die ..Apperzeptions-
konstante", mit der ich den Stoff durchdringe. Der
eine oder der andere der beiden Faktoren kann
mächtiger sein, doch keiner kann ausgeschaltet werden.
Denn nur durch meine körperlichen und geistigen
Augen und Ohren nehme ich die welt draußen in
mich auf, gestalten aber muß ich in den Formen eben
dieser welt, um wieder den Inhalt meiner Seele
anderen Menschen vermitteln zu können. Für den
Forscher, der nach Begriffen strebt, ist in einigen
Fällen wenigstens eine absolute wahrheit erreichbar
— wir dürfen annehmen, 2X2 — q z. B. sei eine
solche. Für den Rünstler, der Anschauungen und
Lmpfindungen gestaltet, hieße „absolute wahrheit"
ein widersinn, denn gsrade aus den Beziehungen von
Objekt und Subjekt, von Außenwelt und Ich, ergeben
sich die Werte, die er sucht, nicht, wie bei der wissen-
schaft, aus den Beziehungen von Dingen der Außen-
welt unter einander. Deshalb ist die wahrheit des
Rünstlers relativ, persönlich anders unter einer jeden
Stirn.

Aber darum, weil sie für einen jeden anders ist,
bleibt sie doch für einen jeden vorhanden. Rultur-
strömungen, wie die des Idealismus oder des Realis-
mus können die subjektive oder die objektive Seite
des Runstschaffens in ganzen Rünstlergeschlechtern
stärken und damit das leise verändern, was für sie
persönlich wahrheit ist, aber es bleibt doch immer
eine subjektive wahrheit da. wie seine Seele die
welt empfindet und schaut, das ist diese wahrheit
für den Rünstler. verbricht er gegen sie, so hört
sein werk für den, der es bis auf seinen Grund

durchempfindet, auf, ein Runstwerk zu sein — er
sieht darin eine Spielerei oder gar eine Lüge. Das
werk des katholischen Dichters, der mittelalterlich
empfindet und aus diesem Lmpfinden heraus gestaltet,
kann auf uns wirken als wahr, das werk eines
Nkannes, der sein andersartiges Lmpfinden verleugnet,
nm mittelalterlich kirchliche Darstellungen nach weise
eines strenggläubigen Ratholiken zu gestalten, könnten
wir als künstlerisch wahr nicht anerkennen. Andere
Beispiele: ein männlich fühlender Nomanschreiber, der
„aus dem Geiste junger Mädchen heraus" schrift-
stellert, ein gesetzter Lserr, der u lu Baumbach dauernd
einen fahrenden Gesellen spielt, womöglich noch einen
vorzeitlichen mit pluderhosen, ein junger Maler, der,
unter den Linflüssen des Realismus aufgewachsen,
sich bemüht, die welt mit den Augen der Alten zu
sehen oder ein alter Maler, der seinen eigenen Augen
zum Trotz Rkehl über seme wiesen streut, um „modern"
zu scheinen. Gs ist etwas anderes, wenn ein Dichter
zur Lharakteristik beftimmter Gestalten sich in ihre
Seele zu versetzen sucht: aus den Fenstern eines
Hauses mögen fremde Gesichter sehen, das Haus
selber soll dessen Geist zeigen, der es erbaut hat.

Der wirklichkeitssinn unserer Zeit ist hoch ge-
steigert, das junge Rünstlergeschlecht ringt, ihin genug
zu thun. Ls muß so handeln, denn der Rünstler
überzeugt durch Anschauungen, und seine Arbeit ver-
pufft, wenn der Beschauer widersprüche zwischen
diesen Anschauungen und der Natur empfindet. Doch
nicht über diese Fragen der Techmk sprechen wir
hier: der ^egen möglichst vollkommener Naturwieder-
gabe z. B. durch die Rlalerei liegt auf einem andern
Gebiete, als dem heute besprochenen: schon Rlingers
Aufsatz über die „Griffelkunst" (Rw. V, 2) und das
Schaffen der Zeichner überhaupt bewiesen uns ja, daß
wirkungen der wahrheit der genauen wirklichkeits-
wiedergabe nicht bedürfen. Rünstlerische wahrheit
ist eine Forderung nicht der Technik, sondern tieferer
Art, künstlerische wahrheit bedeutet Lhrlichkeit, Naivetät,
Ursprünglichkeit, Lchtheit. Rünstlerische wahrheit wird
mehr und mehr verlangt von unserer Zeit, und das
ist in ihr, deren Runstübung so viel Rleines zeigt,
das Hoffnungerweckende und Große.

Sie ruft dem Dichter zu: gieb dich, wie immer
du bist, aber gieb dich, wie Du b i st. Rlale uns,
was Du malst, rückhaltlos wie es dir erscheint, ohne
Ffinblick darauf, ob es die Leute auch so gemalt
wünschen. Träumt und sinnt dein Geist in der Ver-
gangenheit, in der Linsamkeit der Natur, in der
weltflucht traumhafter visionen und Stimmungen,
führe uns, unbesorgt um unsere Teilnahme, auch
dahin mit dir, aber gieb uns keinen Mummen-
schanz, sondern deiner Seele Zustand, echt, wie er ist.
Sie ruft dem bildenden Rünstler zu: bilde uns, was
du mit dem inneren und äußeren Auge siehst, ohne
Rücksicht darauf, wie es andere gesehen haben, offen
und aufrichtig, wie du es siehst. Äehst du, was
allen schön erscheint, verschleire es nicht irgend einer
Rlode zu lieb, siehst du, was andern häßlich erscheint
und was dich doch fesselt, bilde es getrost, denn nicht
ganz umsonst kann es dich gefesselt haben — suche
die seelische Schönheit zu ergründen, die du vielleicht
hinter der körperlichen Lsäßlichkeit ahnst, auch wenn
du selber das gar nicht weißt. Führst du uns Bauten

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