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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1892)
DOI Artikel:
Berger, A.: Die Schaubühne und die Arbeiter
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0244

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L>vettes /Dai-Derr 1892.

W.Stück.

Lrscbetnt

Iberausgeber:

Ferdinrmd Tivenarius.

Kestellpreis;
vierteljährlich 2*/z Mark.

5. Zabrg.

Die Lckiuubükine und die Nrbeiter.

^ie großen sozialeu Aämpfe unserer Tage
sind Lreiheitskämpfe: um Befreiung von
Daseinsnot, aber auch um Befreiung aus
Geistesnacht wird von den Massen mit
guten und mit schlechten Blitteln gerungen. Nicht
allein Brothunger, auch Lichthunger, anch die tiefe
Sehnsucht nach geistiger Speise heischt jetzt Befrie-
digung.

IVer da glaubt, daß die Arbeiter nicht denken
können oder nicht denken wollen, der befindet sich in
einem bedauerlichen Irrtum. Blan hat fie zu denken
gelehrt über wirtschaftliche Lragen, wie über politische,
religiöse und juristische — und sie denken jetzt da-
rüber. Daß ihr Denken sich in einer einseitigen Nicht-
ung bewegt, liegt nicht an ihnen, das ist die schwere
Schuld der höheren Gesellschaftsschichten, welche die
geistige Lrweckung der schlafenden Nlassen verbitterten
Agitatoren überließen.

Last hundert Iahre sind verflossen, seit Schiller
die Veredlung der moralischen Nlenschennatur durch
die ästhetische Rultur anempfahl, und in dieser Zeit
ist so gut wie nichts geschehen, um die breiten Nlassen
zur Runst zu erziehen und durch die Runst zu er-
ziehen. Am werkeltage und bei der Arbeit war es
schwierig, fast unmöglich, sich ihnen zu nähern, aber
am Sonntage und bei Lustbarkeit und 8pielen hätte
sich ein geistiges Band von oben nach unten knüpfen
lassen. 8tatt dessen betrachtete man es als natürlich
und selbstverständlich, daß der „kleine Mann" in
seinen Leierstunden sich in irgend einer Beziehung
dem bloßen Taumel hingab und in dem Nausche des
Alkohols oder noch roherer Lreuden statt höherer Ge-
nüsse jene niedrigen suchte, die ihm allein zugänglich
waren.

Ts ist zwar ein sehr anerkennenswertes Streben,
das den weimarer „verein für Nlassenoerbreitung
guter Schriften" und ähnliche Verbindungen humaner

Dolksfreunde leitet, aber der Trfolg kann aus zwei
Grüuden stets nur ein mäßiger bleiben. Damit, daß
man dem Arbeiter gute Lücher giebt, ist ihm noch
nicht geholfen, denn er weiß sie nicht zu lesen, so zu
lesen, daß das Bild der Dichtung klar vor seine
8eele tritt. Dazu gehört ein sinniger, feiner Geist
und ernste Dertiefung in den Gegenstand. Am Leier-
abend des Werktages wird man von dem müden
Manne eine solche Dertiefung kaum erwarten dürfen,
an Nuhetagen sehnt er sich hinaus aus seinen vier
schählen. ttnd das ist der zweite Grund, warum die
obengenannten Bestrebungen größeren Trfolg nicht
verzeichnen werden: der erwachte gesellschaftliche
Trieb hat das dringende verlangen gezeitigt, alle
Lreistunden nach Möglichkeit in Gemeinschaft mit
anderen zu verleben. Die Mohlhabenderen besuchen
sich gegenseitig in ihren gemütlichen wohnungen, weil,
trotz aller Bücher, der Mensch dem Menschen eben
stets das Interessanteste bleibt. wer wollte es nun
dem Arbeiter verargen, da er weder Besuche abstatten
noch empfangen kann, daß er seinen geselligen Trieb
am dritten Mrte befriedigt? Tr will Nlenschen sehen
und seine Gedanken und Lrlebnisse mit Dritten aus-
tauschen und besprechen.

will man durch die Runst das Lmpfinden des
Arbeiters ausbilden, so wird man die angedeuteten
j Umstände berücksichtigen müssen. Ls wird gelten, den
Mann, der dichterische Gestalten und Bilder aus den
toten kettern nicht zu beseelen vermag, durch An-
schauung und lebendige Gegenwart geistig anzuregen,
und es wird ferner gelten, diese Anregung mit dem
schönen Schimmer gemeinsamer Lestfreude zu umkleiden.

Ganz besonders aus diesen Gründen ist es ge-
rade die Schaubühne, die für die volksbildung
in Lrage kommt. Daß sie aber ihren hshen Beruf
in der Zukunft erfülle, muß man auf das Herzlichste
wünschen auch um der versöhnenden Ulacht

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