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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 5.1891-1892

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Heft 19 (1. Juliheft 1892)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11726#0295

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sonöern Typen überliefert. Der Forderung, wahrheit
zu geben, wird der Aünstler nur dadurch gerecht,
daß er Typen darstellt, aber ohne aus dem Gebiete
der Trfahrungen herauszutreten. Zuweilen verläßt
er zu diesem höheren Zwecke sogar die strenge Natur-
treue, wie Nletrum und Neim in der j)oesie und die
Lsinzufügung von Musik zum Texte des Dramas oder
des Liedes beweisen. Nhythmus und Neim geben
den Gedanken etwas von äußerer Ordnung und zu-
gleich von musikalischer Bewegung. wenn wir auf
der Bühne die Sprache zum Gesang erheben, zer-
stören wir noch mehr die Naturtreue, gewinnen aber
dafür den Norteil, die höheren Bewegungen der Seele
durch die Töne der Ntusik darzustellen. Die sinnlich
angenehmen Tmpfindungen dürfen wir als Llement
der Schönheit nicht verachten; die Natur hat in langer
Arbeit unsren Leib derartig ausgebildet, daß wir uns
nur wohl fühlen, wenn unsere Seelenthätigkeiten sich
am Ungestörtesten entfalten können. — Zetzt sind wir
auf den punkt gekomrnen, wo die wege des Rünstlers
und des Naturforschers sich trennen. Der Nkaler muß
sich der Hauptsache nach auf die Trinnerungsbilder
des Gesehenen, der Nlusiker auf die des Gehärten
verlassen. Das Gedächtnis des Letzteren ist das er-
staunlichere; was er im Ropfe hat, sind aber nicht
die Millionen Notenköpfe, sondern die musikalischen
phrasen der Tonstücke. Lür die wissenschaftliche Ar-
beit hat ein weitreichendes treues Gedächtnis nicht
dieselbe Bedeutung, wie für den Rünstler; denn was
wir in worte fassen können, können wir auch durch
die Schrift fixiren. Nur der erste erfinderische Ge-
danke kann blos in einer der künstlerischen Anschauung
analogen weise aus der Ahnung bisher ungeahnter
Ähnlichkeiten entspringen. Das Dermögen, solche un-
geahnte Ähnlichkeiten zu entdecken, nennen wir witz;
darum war im Lateinischen Dichter und Seher iden-
tisch; seine Fähigkeit wurde als Dioination, als eine
Art göttlicher Linsicht bezeichnet. Aber auch diese
ist nicht möglich, wenn nicht genügende Lrfahrung
vorausgegangen ist. Lin typisches Beispiel dafür ist
die Lrzählung Goethes von seiner Lntdeckung, daß
der Schädel aus einer Umwandlung von wirbeln
hervorgegangen ist, und welche ihm bei dem Anblick
eines auf dem Lido von Denedig aufgefundenen Schaf-
schädels aufging. Goethe ist nicht der einzige Rünstler,
der zugleich Rünstler und Naturforscher war; Leonardo
da vinci studirte mit glücklichstem Lrfolge die Gesetze
des Lichtes." Lselmholtz besprach alsdann Goethes
Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen s)roblemen
eingehender in Lrörterungen, die außerhalb des Stoff-
gebietes unsrer Zeitschrift liegen. Als Schlußergebnis
seiner Betrachtungen stellte er das Folgende hin:
„wo es sich um Aufgaben handelte, welche durch die
in Anschauungsbildern sich gebende dichterische Divi-
nation gelöst werden können, hat sich der Dichter der
höchsten Leistungen fähig gezeigt. wo nur bewußt
durchgeführte induktive Methode zum Ziele führt, ist
er gescheitert. Aber wo es sich um die höchsten Fragen,
um das verhältnis zwischen vernunft und wirklichkeit
handelt, schützte ihn sein gesundes Denken vor Zrr-
ungen und leitete ihn bis zu Lrkenntnissen, die ihn
bis an die Grenzen des menschlichen Geistes führten."

Dwbtung. X Zcböne Lireratur. II.

phaläna. Die Leidcn eines Buches. von Rarl weit-
brecht. (Zürich, Th. Schröter, M. 2.50). — Lin gutes Buch
in der bei uns an und für sich felten und natürlich noch viel
seltener geschickt behandelten Form des huinoristischen Roinans.
Ls flicht bunte und oft wunderliche Bluinen zu einein Strauße,
Bluinen, so jencr wehinütig entsagenden Stimmung entwachsen
sind, die für starke Lharaktere der beste Nährboden des kjumors
ist. Di: „Leiden eines Buches" sind die der guten und ernsten
Äedichtsammlung „Phaläna", die in einem Exemplar durch
den Sortimenter an allerhand Büchersreunde zur Ansicht ver-
sandt wird, von denen doch aus den verschiedensten Gründeu
keiner das Ding behält: weitbrecht hat die vergebliche Rund-
reise des Bändchens zu einer tresflichen Satire über unsere
literarischen verhältnisse benutzt, indem er einige Paupttyxen
aus der deutschen „Leser"-Welt mit großer Anschaulichkeit dar-
stellte. Aber die Aomposition ist nicht so schematisch, wie
man nach dieser Angabe vermuten könnte; Beziehungen
mannichfaltiger Art verbinden die einzelnen Gestalten, und
ein rein menschliches seelisches Geschehen giebt ihr auch im
höheren Sinne pandlung. weitbrecht ist kein Dichter von
außerordentlicher Araft und Eigenart der Persönlichkeit, aber
er ist ein echter Dichter, ein Mann, der gestaltcnd mit
der phantasie arbeitet, nicht nnr rednerisch, ein Mann da-
bei von lebhaftestem Empfinden und durchaus vornehmcr
Gesinnung, niemals allerdings mehr an seinem platze
als da, wo er in guter Laune sein wesen spielen lassen kann.
Das vorliegende Buch wendet übrigens seine Satire noch nach
einer anderen Seite, als der angedeuteten: es teilt auch nnter
die „Iüngsten" uuter unsern Literaten piebe aus — man
merkt, daß weitbrecht die Eniwicklung unseres Schristtums
mit tiefer verstimmung betrachtet. Damit geht er auf einem
wege, auf dem wir ihm nicht folgen, weil unsere Erfahrnngen
nns zu weit freundlicheren Lindrücken über viele dcr jungen
Schriftsteller geführt haben, als ihn die seinen. Die jugend-
lichen Literatur-kjanswürste, die sich bald hypernaturalistisch,
bald „rembrandtisch", bald international, bald höchst teutsch-
tümelnd gebährden, je nachdem, wo gerade die letzte Brochüre
des letzten kritisirenden Eolumbus ans Land getrieben worden
ist, sie sind wohl kaum so ernsthaft zu nehmen, daß wir mehr
als erheiternde Rostgänger des lieben Gottes in ihnen zu
sehen brauchen, halten sie sich selbst auch sür richtigc kleine
Prophetchen. Und selbst in ihrem absurden Moste steckt oft
auch etwas wie guter wein: eine Sehnsucht nach wahr-
heit und Lhrlichkeit, die hinter all dem Albernen und Närri-
schen angenehm heroorschimmert. In sittlicher Beziehung sind
sie sicher nicht schlimmer, als das Literatentum vor zwanzig
oder dreißig Iahren war. Aber sie genießen auch unter dem
Nachwuchs im Schriftstellergeschlecht keineswegs eines nennens-
werten Anhangs, wenn wir von den allergrünsten Neulingen
absehen, die sich noch ganz leicht verblüffen lassen. Fern von
dem großen Reformgeschrei im jüngstdeutschen Lager ist weit
im Lande eine stille Arbeit auch unter den Iungen zu spüren,
die dann und wann ein in ernstem künstlerischem Schasfen ge-
reiftes werk schon jetzt zeitigt.

Line stille welt. Bilder und Geschichten aus Moor
und paide von Timm Kröger. (Leipzig, Friedrich). —
Unter diesem Titel hat der verfasser elf kleinere novellistische
Arbeiten zusammengefaßt, die sich von den zahllosen ähnlichen
Tageserzeugnissen, womit dem Lesepublikum ununterbrochen
ausgewartet wird, in manchen Punkten vorteilhast abheben.
Ls berührt erfreulich, daß der verfasser in diesem seinem
ersten Buche nur zn schildern versucht, was er in seiner hol-
 
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