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Nationaltheater Mannheim [Hrsg.]
150 Jahre National-Theater Mannheim: 1779 - 1929 — Mannheim, 1929

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https://doi.org/10.11588/diglit.20765#0022
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gastierten. Fast jeder große Schauspieler und fast jede
Schauspielerin von Rang traten unter der Intendanz Basser-
mann hier auf. Wir Jungens sahen Lewinsky als Franz
Moor, Sonnenthal als Nathan, Baumeister als Erb-
förster, die Sandrock als Maria Stuart und alle paar
Jahre Agnes S o r m a, das Rautendelein mit dem Kranz
auf dem langen, blonden Haar, die Frau, die Zauber und
Anmut eines fraulichen Herzens, wie keine Zweite in sich
trug. Fast Jaiir um Jahr kam Josef Kainz mit seiner
zauberhaften Sprachkunst. Er spielte den Romeo, den
Cyrano, den König Alfons in der Jüdin von Toledo, und
Sudermanns Fritzchen. Die Sorma und Kainz, das waren
eigentlich die beiden, deren Kunst fast alljährlich einmal
über unserer Jugend geleuchtet hat und erst mit den Letzten
von denen, die in jugendlicher Begeisterung diese Seeligkeil
genossen haben, kann die Erinnerung an diese zwei er-
löschen. Auch Ausländer kamen: Constant Coquelin
spielte den Cyrano, Sarah Bernhardt den Aiglon. Von
der D u s e als Kameliendame hat man mir nur noch erzählt.
Oft wenn ich nach einem solchen Gastspiel heim kam und in
der jugendlichen Begeisterung in den Superlativen schwelgte,
sagte mein Vater, der die Begeisterung teilte, zu mir: Schade,
daß du Mitterwurzer nicht mehr gesehen hast.

In jedem Lebensjahr gab es Höhepunkte der Theater-
erlebnisse. Sie steigerten sich so wie Verständnis und An-
sprüche wuchsen. War es in der Kindheit Hänsel und
Gretel mit der Hoffmann und der C a r i n a in den Titel-
rollen, so wurde es später John Gabriel Borkmann oder der
Baumeister Solness. Höhepunkte waren auch die Jubiläen
und die Abschiedsabende. Aber ein Abschied war dann erst
ein ganz großes Ereignis, wenn die Pferde ausgespannt
wurden. Das war der Maßstab. Da standen an der Künstler-

Es ist noch nicht lange her, daß sich das Wort „Theater-
gemeinde" eingebürgert hat. Es stammt aus der Zeit, als
man sich bewußt wurde, daß die Gesamtheit der Theater-
besucher keine natürliche Gemeinschaft mehr war, daß man
sie erst wieder zu einer solchen „organisieren" müsse. Die
Theatervorstellung wirkt ja nicht nur gemeinschaftsbil-
dend, das Theater als Ganzes, als Institut muß auch ge-
tragen sein von einer Gemeinschaft, von einem öffentlichen
Willen. Nicht nur finanziell, auch künstlerisch; auch der

WERNER VON BÜLOW

Erster Kapellmeister am Nationaltheater
seit 1922, t Dezember 1925.

Spielplan ist ein Niederschlag dieses öffentlichen Willens.
(Darum ist es — beiläufig — auch falsch, Stimmungs-
äußertfngen des Publikums unterdrücken zu wollen. Nicht
eine Sammlung von einzelnen Privatmenschen soll ihre
Meinungen still für sich nach Hause tragen, sondern eine
Versammlung soll ausdrücken, was sie von dem gemeinsam
Erlebten hält. Es darf nur das feierliche Schweigen der Er-
griffenheit oder das peinliche der Ablehnung geben — beide
unterscheiden sich sehr genau — sonst aber die tausend
Nuancen des Beifalls, vom frostigen bis zum orgiastischen,
oder unter Umständen auch einmal lauten Protest. Mit
diesen kann man sparsam sein, weil ein lauer Beifall meist
tödlicher ist. Ergänzt wird die Publikumsreaktion durch
die Pressekritik, die viel weniger individuelle ästhetische
Zensur sein soll, als Eingliederung des künstlerischen Er-
eignisses in das öffentliche Bewußtsein.)

Heute gründet man Vo lksbühnen, vor 150
Jahren schuf man Nationaltheater. Die Namen
enthalten das soziale Programm. Die Nationaltheater von
damals sollten die alten Hoftheater ablösen, aber es gelang
ihnen nicht ganz, die Hoftheater schlugen wieder durch.
Zunächst allerdings nur äußerlich: der Spielplan der
Nationalbühnen siegte. Das hieß damals Sieg der deutschen
Sprache auf der Bühne, Einbürgerung Shakespeares, Pflege
der jungen deutschen Bühnendichter, die dann 50 Jahre
später, als es keine Nationaltheater mehr gab, sondern nur
wieder Hoftheater, zu Klassikern und somit immun geworden
waren. Hätte es damals noch Nationaltheater gegeben, so
wäre Georg Büchner nicht erst vor 15 Jähren für die deutsche
Bühne entdeckt worden.

pforte hinter dem Ifflandsdenkmal viele Hunderte, um dort
die Huldigungen fortzusetzen. So manchen, der zum letzten
Male auf der Bühne des Hof- und Nationaltheaters stand,
haben statt des alten, treuen Droschkengauls, die kunst-

ROBERT GARRISON

Schauspieler am Nationaltheater von 1913 bis 1922.

Die Klassiker werden heute immer noch gespielt, und
wenn man eine statistische Uebersicht der Spielpläne von
damals und heute betrachtet, ist eigentlich erstaunlich, wie
wenig sich inzwischen geändert hat. In den ersten 60 Jahren
des Bestehens des Mannheimer Nationaltheaters steht
Mozarts Zauberflöte der Aufführungszahl
nach in der Oper obenan, in den nächsten 50 Jahren
nimmt sie die dritte, in den letzten 40 die elfte Stelle ein.
Jetzt steht Wagner voran, aber auch Bizet und Mascagni,
neben Webers Freischütz (an vierter Stelle), der im
ersten Abschnitt schon den fünften, im zweiten gar den ersten
Platz einnimmt. Spielte man im Schauspiel in den ersten
60 Jahren am meisten K o t z e b u e und I f f l'a n d, so machen
sich im zweiten Abschnitt Benedix und die B i r c h -
Pfeiffer, im dritten Schönt h an und Sudermann
breit (allerdings erst hinter Schiller und Shake-
s p e a r e, die schon im zweiten Abschnitt die zweite und
erste, im ersten Abschnitt die dritte und fünfte Stelle ein-
nehmen). Für den „Massenkonsum" scheint es sich also
gleichzubleiben, daß neben den großen Klassikern nur jeweils
einige erheiternde und rührende Unterhaltungsautoren be-
vorzugt werden. Die ernsthafte zeitgenössische
Produktion schneidet im allgemeinen nicht
gut ab. Gewiß ist ja auch bisher die Struktur unseres
ganzen Theaterwesens im wesentlichen dieselbe geblieben,
wie sie vor 150 Jahren geschaffen worden ist. Wollen wir
mehr sehen, dann müssen wir schon etwas tiefer graben.

Betrachten wir die Entwicklung des Spielplans in den
letzten 30 Jahren, so zeigt sich, daß die Anzahl der im Laufe
eines Jahres gespielten verschiedenen Stücke sich ganz
wesentlich vermindert hat; sie ist ungefähr bis auf die Hälfte
herabgesunken. Umgekehrt hat sich die Anzahl der im Laufe
eines Spieljahres gegebenen Vorstellungen etwa auf das
Doppelte vermehrt. Jedes einzelne gegebene Werk wird also
im Durchschnitt viermal so oft gegeben, wie früher. Wurde
noch in den neunziger Jahren ein und dasselbe Werk in
einer Spielzeit durchschnittlich nur zweimal gegeben, so ge-
langt es jetzt durchschnittlich achtmal zur Aufführung. Das

Portal des Nationaltheaters nach dem Schillerplatz.

begeisterten Mannheimer nach Hause gefahren. Ich denke
an den Abschied der Burger, einige Jahre später an den
fast unbeschreiblichen Jubel beim Abschied Dr. August
Bassermanns, nach der Vorstellung des Coriolan, die der
scheidende Intendant inszeniert hat.

Auch der Abschied Lucie Lissls, im Jahre
1905, war ein Theatertag allererster Ordnung. Sie spielte
Franz von Schönfhan und Gustav Kadelburgs längst ver-
gessene aber unvergänglich charmante „Comtesse Guckerl".
Es gab viel Tränen beim Abschied. Meine Schulfreunde,
unsere Klasse, hatte etwas Kühnes gewagt, obwohl wir mitten
im Abitur standen. Unter der Fülle der Lorbeerkränze und
Blumenkörbe, die auf die Bühne geworfen und gebracht
wurden, war ein Korb mit weißen Rosen, in dessen Mitte die
weiße Mütze mit dem schwarz-weiß-roten Streifen der Ober-
primaner des Gymnasiums lag. Unsere Professoren hatten
wenig Verständnis für diese Tat, aber der Lissl machte sie
Freude und wir waren sehr stolz. Ein paar Dutzend hiesige
Kunstfreunde schenkten der Lissl zum Abschied einen kost-
baren Ring, in den die vier Worte graviert waren: „Der
Lissl die Mannheimer."

Das sind Ausschnitte aus kunstbegeisterter theater-
freudiger Zeit. Aber sie sind charakteristisch für die Be-
ziehungen der Mannheimer zu ihrem Theater und ihren Künst-
lern. Vielleicht verdienen sie deshalb beim Theaterjubi-
läum eine Beachtung. Ganz gewiß nicht, weil sie irgend
mehr bedeuten, als Erinnerungen, die jedes andere mit sich
trägt. Aber daß alle solche Erinnerungen bewahren, ist
typisch für die Mannheimer Theaterliebe und für das einzig-
artige Verbundensein von Bühne und Publikum, wie es in
Mannheim durch Generationen bestand. Das Praeteritum ist
das allein schmerzliche bei dieser Betrachtung ....

bedeutet in seiner Konsequenz, daß dasselbe Stück vor
eine viel größere Anzahl von Zuschauern
gebracht wird. Die Klage vom Nachlassen des Theater-
besuchs unterliegt also auch dem Relativitätsprinzip: früher
ging der Einzelne öfter ins Theater, heute um-
faßt der Theaterbesuch weitere Kreise.

Zweifellos hat dieser Umstand die Gestaltung des Spiel-
plans zwar insofern vereinfacht, als eine kleinere Anzahl von
Stücken auszuwählen ist, dagegen erschwert, insofern die Ein-

FELIX LEDERER

Kapellmeister am Nationaltheater von 1910 bis 1922.

heitlichkeit und Uebersichtlichkeit des Publikums und seiner
Spielplanbedürfnisse sich vermindert hat. Dazu kommt, auch
wieder statistisch nachweisbar, die auffallende Kurz-
lebigkeit des größten Teils der modernen
Produktion. Früher nahm man selten ein Werk in den
Spielplan auf, von dem man nicht hoffte, es mindestens ein
paar Jahre im Spielplan halten zu können. Heute wird in
der Regel jede Neuheit innerhalb weniger Wochen abgespielt
und selbst eine Klassikerinszenierung hält höchstens für zwei
Spielzeiten vor.

Wie aus diesen Erscheinungen auf ein ganz anderes Ver-
hältnis des heutigen Publikums zur dramatischen Produktion
und zum theatralischen Erlebnis zu schließen sei, darüber
lassen sich umfangreiche Betrachtungen anstellen. Sicher
ist jedenfalls, daß die überkommene Betriebsform des Thea-
ters, unter ganz anderen Arbeitsvoraussetzungen geschaffen,
sich nur schwer den veränderten Anforderungen anpaßt.
Sicher ist auch, daß die Ungewißheit, für wen man eigent-
lich spielt, auch den Maßstab zur Beurteilung des Gebotenen
schwanken läßt. Die kühne Flucht in die Politik, die da
und dort heute das Theater versucht, erklärt sich aus dem
Bestreben nur um jeden Preis eine sichere soziale Plattform
unter die Füße zu bekommen. Sie ist nur leider meistens
mehr platt als Form. Die nationale Idee, die einst
zur Gründung derNationaltheater führte, war
mehr als eine Parteiparole, war eine geistige
Bewegung, die die Gesamtheit des Volkes er-
griff. Darum war sie auch stark genug, das Theater ihrer
Zeit zu tragen. Zum Ganzen zu streben, dem Ganzen zu
dienen, muß auch heute der oberste Leitsatz des Theaters sein,
wenn es sich im Drang der Zeit behaupten will.

Der Mannheimer Spielplan in 150 Jahren

Von Erich Dürr, Dramaturg

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