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2. Der Wandel der Einbalsamierung in karolingischer Zeit

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sondern auch zu einer signifikanten Änderung in deren Qualität: Nunmehr wird der
Leichnam nicht mehr nur gesalbt und einbandagiert, sondern zuvor auch geöffnet, um
ihm innere Organe zu entnehmen.
Diese Veränderung scheint Resultat mehrerer Rahmenbedingungen gewesen zu
sein: Zum einen bot die patristische Theologie keine grundsätzlichen Einwände gegen
die Einbalsamierung und die Fragmentierung des Leichnams114, und im Gegensatz zur
merowingischen Epoche hatte sich im 9. Jahrhundert im Westen auch die Zurückhal-
tung gegenüber einer Zerstückelung von Reliquien für deren kultische Verehrung zu-
nehmend aufgelöst. Das biblische Vorbild gab zudem keine konkrete Technik für die
Einbalsamierung vor und bot Spielraum für sich verändernde Interpretationen der
Konservierungstechniken. Dieser Spielraum wurde genutzt, sobald die rasche Verwe-
sung einen bestimmten Bestattungsort zu verhindern drohte. Im karolingischen Groß-
reich musste früher oder später das Problem eines Versterbens des Herrschers fern der
Herrschaftszentren - und damit der geplanten Grablege - auftauchen. Dabei geriet das
gewünschte Grabritual samt herausgehobenem Grabplatz für die soziale Oberschicht
in ein Spannungsverhältnis mit dem weiterbestehenden, frühmittelalterlichen Ideal ei-
ner raschen, einfachen Bestattung, und dieser Zielkonflikt blieb auch für die folgenden
Jahrhunderte charakteristisch.
a) Die Verwesung und das Ideal der raschen Bestattung
Eine Konstante jedes menschlichen Bestattungsbrauchs sind die physischen Zwänge,
auf die eine Bestattung Rücksicht nehmen muss; das zentrale Problem liegt hier im Ver-
hältnis zwischen Zeit und Tod115, und das wird nirgends so deutlich wie am Beispiel des
Leichnams: Sein Zerfall gehört zu den biologischen Grundgesetzen des Körpers, die
alle weiteren kulturellen Handlungen wie etwa das Begräbnisritual mit Aufbahrung
und Beisetzung determinieren. So verwundert es nicht, dass die meisten Kulturen Ver-
fahren der Einbalsamierung entwickelten oder aufgriffen, um den Zerfall der Leiche zu
verzögern und so den korrekten Ablauf der „rites de passage" sicherzustellen.
Der Ablauf des Verwesungsprozesses hängt vor allem von den äußeren Umstän-
den ab; insbesondere die klimatischen Bedingungen wie die Temperatur und die Art
der Lagerung des Leichnams bestimmen die Geschwindigkeit und Ausformung des
Verfalls. Wenngleich die Zersetzung des Körpers im weitesten Sinne unmittelbar mit
dem Tod beginnt (etwa mit dem Absetzen der roten Blutzellen, die dann die charak-
teristischen Leichenflecken bilden, oder mit der Leichenfäulnis, die den Körper leicht
grünlich färbt), wird der Verwesungsprozess im Sinne einer nicht mehr übersehbaren
Zersetzung des Leichnams erst etwas später sinnfällig, wobei häufig ein Tierbefall den
Prozess erheblich beschleunigt. Möchte man sich trotz der unendlichen Komplexität
Karls des Kahlen im 9. Jahrhundert verwies; Nelson, Funerals 165 und Grandsden, Abbo of
Fleury 61. Damit bleibt freilich die Frage nach der Situation im 8. Jahrhundert offen. Schwierig
erscheint eine Argumentation über jene Beispiele, in denen die Leichname von Bischöfen des
8. Jahrhunderts im Zuge barocker Graböffnungen unverwest vorgefunden wurden, da wir we-
der gegenreformatorischen Eifer in der Beschreibung des Grabinhalts noch eine natürliche Mu-
mifizierung sicher ausschließen können; zwei solche Fälle nennt Päffgen, Bischofsgräber 209,
mit Erzbischof Lull von Mainz und Bischof Erimbert von Freising. Zur indirekten Erschließung
der Einbalsamierung über den Leichentransport vgl. die folgenden Ausführungen.
114 Vgl. Kap. Li. und IILi.b). Zur in diesem Punkt ambivalenten Haltung der Kirchenväter vgl. aus-
führlicher auch Canetti, Reliquie.
115 So bereits Humphreys, Death.
 
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