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IX. Der Leichnam als Arznei und Wundermittel

„so enhoert ouch anders niht dar zuo
niuwan der maget herzebluot:
daz waere vür iuwer suht guot."
Hartmann von Aue, Der arme Heinrich 16 (v. 230-233)
Dass der Leichnam bestimmter Personen heilsame Wirkung habe und seine Anwesen-
heit segnend, fruchtbringend und gesundheitsfördernd sei, gehörte seit dem Frühmit-
telalter zur alltäglichen Vorstellungswelt der europäischen Christen. Der Reliquienkult
ist sein deutlichster Ausdruck. Streitigkeiten wurden um die Ruheorte der im Ruch der
Heiligkeit Verstorbenen geführt, etwa zwischen der Mainzer Bevölkerung und den
Mönchen von Fulda um die sterblichen Reste des Bonifatius nach seinem Martyrium
bei den Friesen1. Schließlich wollte man am Leichnam des zukünftigen Heiligen Anteil
haben, wirkten seine Gebeine doch Wunder2.
Der Glaube an die Wirksamkeit der Heiligen weitete sich jedoch auch in dieser
Hinsicht im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters spürbar auf Personenkreise aus, die
man nicht zu den augustinischen „valde boni" zählte. Bereits mehrfach wurde deut-
lich, dass man insbesondere unter den Laien des Mittelalters viele Fähigkeiten dieser
„sehr Guten" komplementär auch den „sehr Schlechten" zuzuschreiben begann. In
dieses dualistische Schema passte offenbar auch, die Wirkmächtigkeit von deren Ge-
beinen als magisches Heil- und Hausmittel anzunehmen. Zugleich wird dahinter ein
Zug vormoderner Medizin insgesamt sichtbar, da auch in der gelehrten, universitären
Medizin Leichen in Form der zerriebenen „Mumia" ab dem Hoch- und Spätmittelalter
eine wichtige Rolle spielten. Einmal mehr wird so die Nähe einer „Volksmedizin" mit
aus unserer Sicht oft abergläubisch und magisch anmutenden Vorstellungen und der
vormodernen „Schulmedizin" deutlich; die mittelalterlichen Laien teilten über intellek-
tuelle und soziale Grenzen hinweg den Glauben, dass im Körper der Toten eine Le-
bensenergie vorhanden sei, die sich auch für die Stärkung der Lebenden einsetzen ließ3.
Stärker religiös-magische Vorstellungen standen hingegen hinter dem Einsatz von le-
benden Opfern für die Segnung von Bauten, doch bleibt hinterfragbar, inwiefern solche
Opfer im Mittelalter überhaupt eingesetzt wurden. Sicher hingegen ist belegt, dass vom
katholischen Glauben abweichenden religiösen Gruppen vorgeworfen wurde, Leichen
1 Die Beschreibungen über den Streit variieren dabei je nach Blickwinkel des Erzählers; Willi-
bald von Mainz, Vita Bonifatii 52-53; E martyrologio Fuldensi 60; Vita altera Bonifatii 74; Vita tertia
Bonifatii 88-89; quarta Bonifatii 101-106; Otloh von St. Emmeram, Vita Bonifatii 212-214 und
Eigil von Fulda, Vita 148-151. Vgl. zu diesen Auseinandersetzungen etwa Gierlich, Grabstätten
156-159 und 398; Päffgen, Bischofsgräber 47-48.
2 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. II.
3 Vgl. hierzu, wenngleich mit Schwerpunkt auf der frühneuzeitlichen Entwicklung, Schott,
Leichnam.
 
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