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VIII. Leichenvernichtung und Leichenschändung

„Tout ce qui est au delä de la mort simple, me semble
pure cruaute: nostre justice ne peut experer que celuy
que la crainte de mourir et d'estre decapite ou pendu ne
gardera de faillir, en soit empesche par l'imagination
d'un feu languissant, ou des tenailles, ou de la roue."
Montaigne, Essais 700-701 [11,27]
In dem Ausmaß, in dem die mittelalterliche Gesellschaft Regeln für den Umgang mit
dem Toten aufstellte und Maßnahmen zur Erhaltung des Leichnams ergriff, schuf sie
auch Raum für den gezielten Ausschluss von dieser „richtigen" Behandlung der Ver-
storbenen. Definierte man den sakralen Raum des Friedhofs, so dass sich seit dem
10./11. Jahrhundert ein klar umgrenzter Platz um die (Pfarr-)Kirche als Mittelpunkt der
Gemeinschaft der Gläubigen herausbildete, eröffnete dies zugleich die Möglichkeit,
Personen von einer Bestattung innerhalb dieses Raums auszuschließen. Während der
Friedhof der Antike die Toten unabhängig von ihrer Religion und sozialen Herkunft
an einem Ort versammelte, stellte der Kirchhof des Hochmittelalters nur einen Begräb-
nisort für die christliche Gesellschaft dar, in der alle Andersgläubigen - insbesondere
Juden und Muslime - ausgeschlossen blieben1. Die Grenzlinie für den Ausschluss sollte
die Rechtgläubigkeit der Toten sein, und vor allem im Hochmittelalter stritt man immer
detaillierter um Bestimmungen, die definierten, wer eine kirchliche Bestattung ver-
diene - und wer nicht. Dabei erscheint das Hauptziel dieses Diskurses über den Aus-
schluss von der christlichen Bestattung überraschenderweise weniger im Ausschluss
selbst als in der Selbstvergewisserung der eigenen Rechtgläubigkeit innerhalb der mit-
telalterlichen Elite gelegen zu haben, wie sich im Anschluss an die diskurstheoretische
Methode Foucaults überlegen ließe. In diesem Licht erscheint der Ausschluss erst rela-
tiv spät als ein Phänomen, das tatsächlich größere Kreise der mittelalterlichen Gesell-
schaft betraf; erst langsam wurde das Verbot der Bestattung auch jenseits von Adel und
Klerus besprochen, und im Laufe dieses Prozesses der Adaption in der Mentalität der
Gesellschaft veränderte es sich selbst allmählich, bis schließlich im 15. Jahrhundert eine
strikte Durchsetzung auch in der Praxis nicht so sehr vom Klerus als vielmehr von den
Gläubigen in den spätmittelalterlichen Städten selbst eingefordert wurde.
Hatte man die Unversehrtheit des Leichnams nach dem Vorbild der unverwesten
Körper der Heiligen zu einem wünschenswerten Zustand erhoben und drückte sich
das Ansehen der Verstorbenen sowohl der weltlichen als auch der religiösen Elite nicht
zuletzt im Grab am Ruheort der Leiche aus, so bot ihre Zerstückelung und Schändung
eine Möglichkeit, Prestige, Ehre und Nachruhm eines Toten nachhaltig zu erschüttern.
Damit stand ein Instrumentarium zur Verfügung, die Rechtgläubigkeit einer Person

Vgl. dazu Lauwers, Naissance 166-176.
 
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