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als in antiker und merowingischer Zeit - auch die Öffnung des Toten für eine Erhaltung
in Kauf nahmen. In diese Tradition westlicher Leichenöffnungen fügt sich auch die
Sektion im universitären Rahmen ein, die seit dem Spätmittelalter zum medizinischen
Lehrbetrieb gehörte (Kap. III). Eine weitere Folge stellte die Getrenntbestattung einzel-
ner Körperteile, namentlich von Herz, Hirn und Eingeweiden, dar, die hier insbeson-
dere im Rahmen der symbolischen Zuschreibungen an innere und äußere Körpermerk-
male beleuchtet wurde (Kap. X).
Die Forschung hat traditionell dem „lebenden Leichnam" und der Furcht vor dem
Toten einen wichtigen Platz in der Erklärung mittelalterlicher Bestattungsbräuche ein-
geräumt. Hier erfuhr der Begriff ebenso wie die damit zusammenhängenden, volks-
kundlichen Argumentationsmuster, die oft alte heidnische Vorstellungen hinter dem
hoch- und spätmittelalterlichen Umgang mit der Leiche sehen, weitgehende Kritik.
Demgegenüber wurde versucht, die im Vergleich zu früheren und späteren Epochen
der europäischen Geschichte ungewöhnliche Nähe der Toten als Teil der mittelalter-
lichen Gesellschaft zu betonen; dabei können christliche Argumentationsmodelle ei-
nen überraschend großen Teil devianter Bestattungen hinlänglich erklären (Kap. VII).
Diesem Befund kommt umso größere Bedeutung zu, als sich erhebliche Schwierigkei-
ten ergeben, überhaupt eine „Normbestattung" für das Mittelalter zu definieren, und
ein guter Teil der Diskussion entpuppt sich so als Phantom der Forschung (Kap. I). Den-
noch dachte man den Leichnam im Mittelalter offenbar in einem positiven Sinn durch-
aus als lebendig; so konnte er sowohl als Zeuge, als auch als Empfänger und Vertei-
diger von Rechten und Besitz auftreten, war also in mittelalterlicher Perspektive nicht
nur Rechtsobjekt, sondern auch Rechtssubjekt. In der mittelalterlichen Rechtsfindung
spielte die Begutachtung des Leichnams eine zentrale Rolle, und die Anfänge der fo-
rensischen Leichenbeschau lassen sich in diesen Zusammenhang einordnen. Zugleich
diente der Leichnam als Zeichen der Justiz und Autorität, half Grenzen und Gerichts-
hoheiten äugen- und sinnfällig zu etablieren (Kap. VI, VIII).
Die gesellschaftliche Rangordnung, den „ordo", bildete auch die konkrete Be-
stattung der Toten ab; hier sind es zum einen die Lage der Toten im Verhältnis zum
Heiligen in und um die Kirche, die eine wichtige Aussage über den sozialen Status er-
möglichen. Insbesondere die Untersuchung der Grabbeigaben ermöglicht dabei weiter-
gehende Aussagen, und hier wurde versucht, das erneut vermehrte Aufkommen von
Grabbeigaben seit dem frühen Hochmittelalter vor allem als Identifizierungshilfe zu
deuten, die parallel zur Erhaltung des Leichnams durch die Einbalsamierung das im
Leichnam vorhandene „Kapital" für die jeweilige geistliche Gemeinschaft sichern hel-
fen sollte (Kap. V). Gleichzeitig wird die soziale Schere in kaum einem anderen Gebiet
der mittelalterlichen Gesellschaft so deutlich wie im Umgang mit dem Leichnam. Die
Vorstellung von den Voraussetzungen einer würdigen christlichen Bestattung wird da-
bei erschüttert, wenn man betrachtet, was auf einer niedrigeren sozialen Ebene jenseits
der mittelalterlichen Elite als letztlich unverzichtbar galt. Bei Katastrophenereignissen
wie Krieg oder Seuchen entfernte man sich zwar nur zögerlich, aber letztlich eben doch
von üblichen Bestattungsbräuchen; in der Praxis dürften so - häufiger als es literarische
und chronikale Berichte nahelegen - die Toten der großen Pestwelle des 14. Jahrhun-
derts auf Kirchhöfen bestattet worden sein. Bereits die Einführung des Kirchhofs und
die damit einhergehende Verknappung des Bestattungsplatzes hatte die Akzeptanz ei-
ner regelhaften Störung der Totenruhe nach spätestens zwei bis drei Generationen für
den „einfachen" Verstorbenen zur Folge (Kap. I).
Paradoxerweise waren vor dem Ablauf einer solchen Frist und in verändertem so-
zial-politischen Kontext die Vorenthaltung des Grabes und die Auflösung der Integrität
des Toten dennoch eine Maßnahme zur Entehrung und zum Ausstoß aus der Gesell-
 
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